In unserem Video erzählt Dir Evelin, wie sie den Mut fand, sich vom allgegenwärtigen Erziehungswahn zu befreien und beschreibt, warum wir unsere Kinder nicht erziehen.


Zunächst gebe ich zu, dass es manchmal hart ist, seine Kinder gar nicht zu erziehen. Oft gibt es Situationen, in denen mich alle guten Geister verlassen und mir an meine Kinder gerichtete Moralpredigten nur so aus dem Mund quillen könnten. In diesen alten (Erziehungs-)Mustern stecken wir fest, weil wir selbst erzogen worden sind, keine nichterziehenden Familien kennen und Erziehung womöglich als notwendig ansehen.

Neben unseren Eltern erfuhren wir den Kindergarten und die Schule als weitere Erziehungsinstanzen. Besonders in der Schule wird man „gesellschaftsfähig“ gemacht, um zu lernen, dass man sich in die Masse einzugliedern hat. Auch ich habe mich entsprechend gefügt.

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Wie mir meine Begeisterung genommen wurde

In der Schule wurde mir gegenüber eines Tages ein Satz geäußert, der meine berufliche Laufbahn über einen ganz anderen Weg führte, als ich mir das zunächst ausgemalt hatte. Ich träumte mit 13 oder 14 Jahren voller Begeisterung davon, in meinem späteren Beruf durch ferne Länder zu reisen, ein elegantes Outfit zu tragen und Umgang mit vielen Menschen zu haben: Als Stewardess sah ich mich. Voller Begeisterung las ich alle Bücher, die ich über diesen Beruf auftreiben konnte, versuchte mich am selbständigen Lernen einer zweiten Fremdsprache und löste – vollkommen anders als üblich – alle Mathematik- und Physikaufgaben fehlerfrei, wenn die Wörter „Flug“ oder „Flugzeug“ darin vorkamen.

Zur Stunde der Berufsberatung wurde allerdings festgestellt, dass ich doch zu klein für diesen Beruf wäre. (Inzwischen gelten andere Richtlinen.)

Erziehen – Oder: Die Notwendigkeit zum Führen?

Kurzum: Ich wählte eine Ausbildung zur Erzieherin. Auch hier bekam ich wieder gezeigt, was in unserer Gesellschaft gewollt ist: das Erziehen. Die Definition der Erziehung konnte ich bald im Traum aufsagen; Erziehung ist die beabsichtigte und zielgerichtete Beeinflussung meist junger Menschen. Erziehung wurde als notwendig angesehen. Die als hilflose Wesen geborenen Menschen bräuchten aus diesem Grunde Führung. Stets wurde viel Wert auf das Wort „Führung“ gelegt. Mich erinnerte dieses Wort zunächst an eine gewisse politische Zeit, aber gut…

Ich wollte mich während meiner Praktika in einem Waldkindergarten vergewissern, ob die Gewichtung in Sachen Erziehung tatsächlich so stark auf „Führung“ liegt.

Erleichternd stellte ich fest, dass in diesem Waldkindergarten eine andere Messlatte verwendet wurde. Hier galt eher das Prinzip: „Der Erzieher sollte die Verantwortung übernehmen.“, statt: „Der Erzieher muss die Führung übernehmen.“. Auch ich fühlte mich wohl damit, den Kindern zu vertrauen und schritt nur ein, wenn ich die Verantwortung für ihr Tun nicht mehr tragen konnte.

Vertrauen statt erziehen

Mit dem für mich gewonnenem Vertrau-dem-Kind-Ansatz kam ich aus dem Wald zurück in die Fachschule, in der das eigene Erzieherverhalten eingeschätzt werden sollte. Dazu nutze man das Koordinatensystem, das von den Pädagogen Tausch und Tausch entwickelt wurde. Im Video gehe ich näher darauf ein. Schlussendlich entschied der Dozent der Fachschule, dass mein Erzieherverhalten nicht korrekt sei und ich nochmal darüber nachdenken sollte.

In meinem für mich gewonnenen Ansatz, Kindern zu vertrauen statt sie zu führen, entdeckte ich keinen Fehler und startete schließlich ins Berufsleben. In Kindergärten, Schulen und Familien ließ es sich jedoch sehr gut mit meinem „Fehler“ arbeiten. Ich stieß lediglich an meine Grenzen, wenn eine Kollegin eingriff, damit kleine Jungs nicht mehr Krieg spielten, ein Autist seine Festhaltetherapie bekam oder Krippenkinder nicht mehr mit Messer und Gabel aßen.

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Das Thema Antipädagogik / Nichterziehung im Studium und in meiner Familie

Im sozialpädagogischen Studium fielen zwar Namen wie Alice Miller, doch auch hier spielte die Antipädagogik noch keine Rolle.

Letztendlich habe ich mir nach der Geburt meines ersten Kindes wieder verstärkt Gedanken dazu gemacht. Ein generell gutes Grundgefühl hatte ich bereits, weil ich viele Dinge anders machte als die meisten westlichen Frauen. Immer mehr Anerkennung fanden: freie Geburt, Langzeitstillen, Schlafen im Familienbett, Windelfrei, Tragen statt Schieben, Breifrei usw. Doch zunehmend konnte ich feststellen, dass eine gewisse Erziehung meines damals zum Laufkind heranwachsenden Mädchen mit stark ausgeprägtem eigenen Willen nicht mehr lange auf sich warten ließe.

Durch Zufall lernte ich eine Familie kennen, in der keine Erziehung im klassischen Sinne stattfand und in der ich mir wie in einem Pipi-Langstrumpf-Bilderbuch vorkam. Den liebevollen Umgang der Mutter wollte ich mir abschauen und entschied dabei, dass mein Kind auch keiner Norm für gestriegeltes Haar und andere Vorzeigemuster entsprechen muss.

Für mich war der Punkt gekommen, an dem ich beschloss, dass mein Kind einfach nur das Kind sein soll, das es ist. Ich brauche es nicht zu formen, sondern will ihm stattdessen Vertrauen schenken. Ich will ihm helfen, das zu sein, was es ist. Und ich will ihm dabei helfen, das zu werden, was es sein wird. Mehr und mehr will ich versuchen, mich in mein Kind hineinzuversetzen und das Erziehen Stück für Stück sein zu lassen.

Inspirationen und Mut, neue Wege mit Deinen Kindern zu beschreiten, findest Du im Onlinekongress „Empower the Child„.

CC BY-SA 4.0 Warum wir unsere Kinder nicht erziehen von Free Your Family ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.