Liebe Kinderfreunde,
hattet ihr früher einen Adventskalender? Stand in eurem Kinderzimmer ein selbst gebastelter aus kleinen Schachteln? Oder hingen eure Eltern 24 kleine Säckchen auf? Die Überraschungen darin bereiteten uns jedenfalls Neugierde, Vorfreude und Spaß. Viele von uns hätten sicher nicht darauf verzichten wollen.
Standen wir frühs aus unserem Bett auf, kribbelte es schon in den Fingerspitzen. Die Füße trugen uns so schnell sie konnten zu unserem Weihnachtskalender. Unsere Augen blinzelten hochkonzentriert: „Wo ist Nummer 15? Ah, hier auf dem Fensterchen der goldenen, gebastelten Turmspitze! Was wird wohl darin sein? Ein aufregendes Spiel, ein kleines Armband, eine gelbe Kiwi oder eine Sternfrucht? Oder wartet hinter dem Türchen etwas, was wir für fast selbstverständlich halten und was trotzdem unbedingt in einen Adventskalender gehört? Sowas wie ein paar Nüsse, ein Lebkuchen, ein Schokoladenstück oder eine Mandarine?“
Gewissheit und Vertrauen
Das Schöne am Adventskalender war: Man hatte die Gewissheit und das Vertrauen, dass sich hinter jedem Türchen etwas Tolles versteckt. Manchmal konnte man die Neugierde kaum aushalten: „Welches kleine Geschenk wird wohl morgen oder übermorgen verborgen sein? Und welches erst hinter der Vierundzwanzig? Vielleicht kann ich einen ganz kleinen Blick hineinwerfen? Mist, es ist zu dunkel in der Schachtel. Und wenn ich sie noch weiter öffne, verbiegt es sie leicht und jeder sieht, dass ich daran war. Das wäre nicht schön. Aber schütteln könnte ich das Ganze mal. Nach was hört sich dieses Rumpeln nur an? Oder ob ich mal daran schnuppere? Aber ja nicht zu derb die Nase hineinschieben, sonst verbiegt es die Öffnung wie beim vorsichtigen Aufpiepeln mit den Fingern wieder …“
Heute bin ich „groß“ und öffne keinen Adventskalender mehr. Höchstens zum Befüllen, wenn es um den meiner eigenen vier Kinder geht. Allerdings bekomme ich jeden Tag selbst eine Überraschung. Es ist eine kleine Ahnung, Bestätigung oder Vorfreude auf etwas, wenn es um das Lernen meiner Kinder geht.
Was das Freilernen und ein Adventskalender gemeinsam haben
Meine Kinder sind Freilerner. Sie besuchen weder eine Schule, noch unterrichte ich sie. So, wie Kinder das Vertrauen haben, dass sich hinter jedem Türchen etwas Nettes für sie verbirgt, vertraue ich darauf, dass meine Kinder aus eigenem Bedürfnis heraus lernen.
In einem Adventskalender stecken originelle Gaben – kleine Heftchen oder Spielfiguren zum Beispiel. Die „besonderen Gaben“ des Freilernens sind leicht zu beobachten: Meine Kinder lernen Ski fahren, schwimmen, töpfern, sticken, Instrumente zu spielen, Konflikte zu lösen oder das Schieren von befruchteten Hühnereiern. Es sind all die Dinge, von denen sich gut Fotos posten oder an die Großmütter verschicken lassen. „Seht ihr, unser Kind lernt schon wieder was Neues!“, schreibt man dann dazu und erntet viele Smilies und Insta-Herzchen.
Kommt Zeit, kommt Rat
Bei den Lerninhalten meiner Kinder ist einiges dabei, was in der Schule nicht, erst später oder nur am Rande gelehrt wird. Weil wir aus Deutschland abgemeldet sind und viel im Ausland reisen, geht es bei uns gar nicht anders. Wenn wir nachts wegen eines Erdbebens mit unseren Betten durchs Zimmer rutschen zum Beispiel. Dann schauen wir gleich frühs, wieso unser Reiseort erschüttert wurde und wie ein Erdbeben entsteht – mit allem, was dazugehört. Es wäre unmöglich, die Plattenverschiebungen der Erde zu verschweigen und sie abzutun mit: „Das behandeln wir erst in 4 Jahren, wenn es laut Lehrplan dran ist“.
Auf Reisen zu sein, und ohne Schule zu lernen, heißt auch „Worldschooling“. Vieles beschäftigt die Kinder unentwegt. So saugen sie in Museen, an Denkmälern, in Fabriken, Betrieben und Reservaten und bei anderen Familien eine Menge Wissen auf.
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Über die Grundlagen: lesen, schreiben und rechnen
Doch was ist mit all den „grundlegenden“ Dingen wie Mathematik, Lesen und Schreiben? Auch in einem Adventskalender bilden Füllungen wie Pfefferkuchen, Nüsse, Äpfelchen und Mandarinen die Basis. Diese Naschereien sind gang und gäbe. Man findet vor allem so etwas hinter den Türchen.
Und genauso bleiben die Dinge, die gern als grundlegend und wichtiger bezeichnet werden, den Freilernern nicht fern. Ich sehe sie, auch wenn kein Schulbuch im Kinderzimmer aufgeschlagen ist. Auch sehe ich es, wenn meine Töchter feststellen, dass zwei mal 16 Treppenstufen 32 Stufen ergeben. Ich freue mich, mit welcher Leichtigkeit sie ein Buch nach dem anderen verschlingen, die Uhrzeit ablesen oder Bruchrechnung kennenlernen.
Die kleinen „Selbstverständlichkeiten“ kommen also nicht zu kurz. Beim Freilernen ist es wie bei einem Adventskalender: Das Rechnen, das Schreiben, und das Lesen kommen freudig zum Vorschein wie die kleinen, selbstverständlichen Naschereien.
Lassen wir uns überraschen!
Da meine Kinder jeden Tag selbst entscheiden, was, wann, wie und warum sie lernen, wird jede Beobachtung für mich zu einer Überraschung. Das natürliche Lernen geschieht ohne Murren, ohne meine Anweisung, ohne einen äußeren Drang oder ein Pflichtgefühl. Das Freilernen verliert also weder an Spaß noch an Vorfreude – wie bei einem Adventskalender. Damit die Freude am Lernen aber nicht verloren geht, „nerve“ ich nicht mit Schulaufgaben, die ich mir für sie ausdenke. Mit anderen Worten: Ich öffne nicht ein Themen-Türchen, dessen Zeit noch nicht gekommen ist.
Und das Gute ist: Meine Mädchen und Jungen brauchen mich nicht an die Füllungen zu erinnern. Und ich muss sie nicht ans Lernen erinnern. Wenn ich an Türchen 24 denke, also daran, was aus meinen Kindern mal werden wird, bin ich mir sicher: Etwas Tolles! Einfach, weil sie es bereits sind. Ganz gleich ob sie theoretische Physiker, Pizzabäcker, Hebammen oder Putzkräfte werden möchten – wichtig ist doch, dass sie bei allem, was sie tun, glücklich sind.
Ich wünsche euch allen frohe Momente, in denen ihr die natürlichen, kleinen „Lernerfolge“ eurer Kinder bestaunen könnt wie kleine Adventsgeschenke.
Alles Liebe, eure Evelin
Freilernen ist wie ein Adventskalender von Free Your Family ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
Ein spannender Beitrag – besten Dank für die Impulse!