In diesem Blogbeitrag teile ich meine Erfahrungen und Überzeugungen zur bedürfnisorientierten Begleitung junger Menschen – ohne Erziehung. Ich spreche über die Herausforderungen und Vorteile dieses Ansatzes und reflektiere über persönliche und familiäre Entwicklungen in den letzten 10 Jahren.

Falls ihr den Beitrag lieber anhören möchtet, könnt ihr ihn euch auch vorlesen lassen:

 

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Liebe Leserinnen und Leser,

es passierte zum ersten Mal auf einem Ökomarkt. Meine große Tochter war ein Kleinkind und hing süß und knuffig an meinem Rockzipfel. Die Babytochter hielt ich auf dem Arm. Von irgendwo tauchte eine Frau auf. „Das sind zwei ganz außergewöhnlich liebevolle Kinder, das sehe ich“, sprach sie mich an. So schnell, wie sie gekommen war, verschwand sie auch wieder. Ich konnte nicht erkennen, ob sie vielleicht zu einem Edelstein-Verkaufsstand lief oder selbst irgendetwas Besonderes an sich hatte. Noch oft habe ich solche oder ähnliche Lobeshymnen für meine Kinder bekommen. Nicht häufig aus den eigenen Reihen, aber doch zigmal von anderen, „besonders“ freundlichen Familien oder Menschen jedes Alters im Ausland (Bayern mitgezählt ;-) ).

Tschechei

Unerzogen unterwegs – nun schon mehr als zehn Jahre

Gutes Benehmen kommt mitunter von allein, wenn man nicht muss

Natürlich freue ich mich dann immer. Komplimente tun bekanntlich jeder Mama gut. Diese Momente sind es, die mich motivieren, weiterzumachen wie bisher. Obwohl „Unerzogen“ sowieso so eine Haltung ist, die man, einmal für gut befunden, nicht mehr ablegen will. Selbst hätte ich allerdings nie mit „ach so höflichen und zuvorkommenden“ Kindern prahlen können. Ich bin, wollte ich meine Kinder bewerten, mit ihnen ganz zufrieden. Doch ich sehe die vier Kinderchen eigentlich als „ganz normal“ an.

Naturkinder

Kinder einfach Kinder sein zu lassen klappt übrigens besonders gut in der Natur

Meine Kinder streiten, schreien und schubsen sich derb. Sie sind trotzig, widerspenstig und bringen meine Gedanken zur Weißglut. Ein andermal sind sie wieder furchtbar sozial, hilfsbereit, einfühlsam und in hohem Maße freundlich. Durchschnittlich. Unsere Zahnärztin brachte das mal gut auf den Punkt: „Zuhause können sie ihre Gefühle zeigen und draußen (bei Fremden) wissen sie, wie sie sich (höflich) benehmen können. Genauso ist es doch perfekt!“

Fasching

Pippi Langstrumpf und Herr Nilson

Gegenwind

Als wir mit unserem Blog Ende 2015 starteten, ließen wir die Welt wissen, dass wir unsere Kinder nicht erziehen. Noch ganz schüchtern und doch mutig erklärte ich, was unerzogen bedeutet und wieso es eben nicht das Gleiche ist wie laissez-faire. Meine Kommilitoninnen sagten, wie cool und wichtig es wäre, dass ich über den Unsinn von Erziehung „mal aufkläre“. Andere Kommentare sollten mir voraussagen, welch großen Fehler ich mache, die eigenen Kinder bedürfnisorientiert zu begleiten anstatt sie zu erziehen: „Jetzt sind deine Kinder ja noch klein; aber warte nur, bis sie größer sind! Im Trotzalter werden sie machen, was sie wollen. Und als Teenager haben sie so wenig Respekt vor dir, da tanzen sie euch auf der Nase rum!“

Ich lass‘ sie auf der Nase rumtanzen … äh rummalen

Was mir an Erziehung nicht passt

Ich glaube, meine Nase ist tatsächlich schon breiter geworden. Heute sind meine beiden Töchter neun und elf Jahre alt. Die zwei Buben, die unsere Familie komplettieren, vier und sechs. Wenn mich heute jemand fragt, ob die Orgelpfeifen ordentlich erzogen wären, dann antworte ich „Jein“. Mein Ziel war und ist, meine Kinder bewusst nicht zu erziehen. Auch eine demokratische Erziehung, das habe ich schon als junge Kindergärtnerin in den Kitas und Schulen gemerkt, geht – krass ausgedrückt – immer etwas mit Erpressung, Drohung und Gehorsam einher.
Für mich ist es so: Ich lobe ein Kind, weil ich mir einen pädagogischen Nutzen erhoffe (und mache es so von meinem Lob abhängig). Ich erpresse mit „Wenn du das (nicht) machst, dann passiert das (nicht)“. Ich bewerte ein Kind, bestrafe es mit den verschiedensten Mitteln (Angst, Ignorieren, Drohen, Lügengeschichten usw.), weil ich meine Macht, endlich selbst eine gescheite Erwachsene zu sein, ausnutze. Für mich und einen Haufen anderer Anti-Pädagogen ist Erziehung übergriffig.

Für Freundschaft statt Hierarchie in der Familie

Beziehung statt Erziehung

Mir war klar, dass ich mich gern als Begleiterin eines jungen Menschen zur Verfügung stelle, aber nicht als Erziehende. Ich bin ein Leitwolf, um die Worte des Familienberaters Jesper Juul zu gebrauchen, der die nötige Lebenserfahrung hat, um Nachkommen vor Gefahren zu schützen und ihnen den Weg zu zeigen. Aber ich brauche sie nicht zu „ziehen“.

Spaß haben, anstatt alles zu verbieten

Wie findet mein Umfeld eine bedürfnisorientierte Begleitung?

Einigen Leuten bin ich zu extrem. Anti-Pädagogin, Veganerin, Unschoolerin – Spinnerin! Wer mag schon Menschen, die aus der Reihe tanzen? Etliche fänden es einfacher, mit dem Strom zu schwimmen. Die Unterschiede in unserem Familienkreis klaffen zum Teil weit auseinander. Nach über zehn Jahren lädt mich ein „Uns hat’s doch auch nicht geschadet“ nicht mehr zu Diskussionen ein. Ich kann durchaus sachliche Kritik annehmen, denke darüber nach und entscheide manches neu. An meinem Standpunkt zur Sinnlosigkeit von Erziehung ändert es nichts.

Das Baby will malen und den Pinsel ablecken? Reichen wir ihm einfach einen (köstlichen) Naturfarbkasten!

Uns Eltern wie auch unseren Kindern fallen solche Leute schnell auf, die einen ähnlichen Umgang mit ihren (Nicht-)Zöglingen pflegen. Eltern, Pädagogen, Rentner oder Großeltern anderer Kinder – wer von denen nicht erzieht, ist uns sofort sympathisch. Manche Leute gehen so frei mit jungen Menschen um und merken dabei nicht mal, dass sie nicht erziehen. Inzwischen fallen uns sogar Leute auf, die ihre Hunde nicht erziehen. :-D

Ich finde, es lassen sich schon ziemlich viele coole Leute finden, die mit Kindern einfach mal gelassen umgehen können.

Was macht eine bedürfnisorientierte Begleitung junger Menschen so schwer?

Die Kniffligkeit, die ich als ganz junge Mama hatte, bestand darin, Unerzogen nicht mit antiautoritärer Erziehung gleichzusetzen. Mit einem (kleinen) Einzelkind fiel es mir damals schwer, Nein zu sagen. Mit jedem Kind bekam ich den Dreh besser raus. Langsam erschien es mir logischer, die Bedürfnisse aller unter einen Hut zu bekommen statt, wie zuvor, nur die von diesem einen kleinen Menschen.

Spielen im Klo

Flexibel bleiben und Alternativen bieten: Die (saubere) Klobürste steht auf der Heizung schon bereit (man sollte sie nur noch vor dem Zähneputzen reichen)

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Wenn du etwas nicht willst, darfst du nein sagen. Wichtig ist, die Emotionen zu akzeptieren und bei Bedarf aufzufangen.

Was macht unerzogen einfach?

Viele meiner Freundinnen sind selbst Erzieherinnen und bewundern, wie ruhig ich mit meinen Kindern umgehe. Das liegt allerdings einfach daran, dass es mir in der Öffentlichkeit überhaupt nicht in den Sinn käme, meine Kinder zu erziehen. Ich will mich doch nicht bloßstellen, indem ich irgendjemanden ermahne oder züchtige. Meine Devise ist dann: Man kann über alles reden. Und das am besten gewaltfrei. Obwohl ich dafür plädiere, dass gewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenberg ein Pflichtfach an allen Schulen wird, gerät sie auch immer wieder mal in unserer Familie in Vergessenheit.

Schlittschuhfahren

In einer spiegelglattgefliesten Wohnung in Albanien haben die „unerzogenen Gören“ das Schlittschuhlaufen neu erfunden

(Gewaltfrei) Reden ist Gold

Für mich ist GFK der Schlüssel für ein friedliches „Unerzogen“. Ich kenne Familien, die mit ihren Kindern zuhause alles sehr vorbildlich ausdiskutieren. Manchmal haben beide Eltern eine pädagogische Ausbildung. Kann sein, dass diese Familien bessere Voraussetzungen haben als wir, was die Kommunikation mit den Sprösslingen angeht. Muss aber nicht sein.

Weihnachtsbaum

Unerzogen heißt nicht, dass es keine Grenzen gibt. Es kommt darauf an, wie wir sie setzen.

Wenn Unerzogen scheitert

Wir (als Eltern) hebeln unsere guten Vorsätze aus den Angeln, wenn es stressig wird. Die eigenen Kinder gleichwürdig zu behandeln, hängt bei uns an einem seidenen Faden, wenn:

  • wir Eltern den Besuch der Schwiegereltern erwarten,
  • persönliche Schwierigkeiten an uns zehren,
  • wir befürchten, die Nachbarn könnten sich gestört fühlen und
  • eine Aussage anderer uns verletzte und wir uns dadurch gerade mistig fühlen.

Kennt ihr die Aussage Juuls, gute Eltern würden nur so zwanzig Fehler pro Tag begehen? Puh, klingt schlimm, oder? Nun, bei uns sind es wohl unbedachte Aussagen, die auch schon mal fies sein können. In den besten Familien gibt’s Schrei-Tage, Streit-Minuten oder Muffel-Laune zwischendurch.

Haare machen

Hatte ich bereits erwähnt, dass sich freie Kinder in der Regel gerne ungeniert ausprobieren?

Was hilft, um einem Erziehungs-Teufelskreis zu entkommen?

Wurde es für mich schwierig, einen bedürfnisorientierten Umgang mit meiner Familie zu pflegen, gab es zwei Dinge, die mir dann besonders halfen.

1. Lass‘ die Leute reden

Zum einen: Wenn mich Aussagen anderer gestresst haben, dann habe ich mir ins Gedächtnis gerufen, dass diese ein ganz anderes Leben leben oder lebten. Zum Beispiel empfand ich es immer als gemein, wenn meine Schwiegermutter schon fast damit prahlte, wie geordnet es früher bei ihr zuging oder was sie alles ganz anders machte. Klar kann man sich über Besserwisserei ärgern, und genau das ist wahrscheinlich auch oft genug das Ziel. Führt man sich allerdings vor Augen, dass solche Personen möglicherweise weniger Priorität auf eine freundschaftliche Beziehung zu den eigenen Kindern legten, dann belasten mich Vorwürfe weniger.

In der guten Stube spielen, 11 Uhr noch im Schlafanzug, ungekämmte Haare – das hätte es früher nicht gegeben! ;-)

2. Nicht-Erziehungshilfe Nummer zwei

Als die Kinder klein waren (ich meine so richtig klein) kam man um den Stress nicht herum, alles unter einen Hut zu kriegen. Zur besseren Vorstellung für alle, die gerade keine Kinder versorgen oder dem sie schon einige Jahre entwachsen sind: Du selbst musst seit Stunden pinkeln und willst dir endlich die Babyspucke vom Hals waschen. Die größeren Kinder streiten gefühlt schon den halben Tag wegen eines im Chaos verschwundenen Spielzeugs, das schmutzige Geschirr findet den Weg nicht von selbst in die Spüle und neben dem müden Baby haben alle total Hunger. Dass man unter Stress seine Kinder anmault, umherschreit oder die Erziehungskeule schwingt, ist wahrscheinlicher als an einem Friede-Freude-Eiersatzkuchen-Tag.

Mein zweites Helferlein war, mir eine Tageszeit festzulegen, in der ich definitiv unerzogen sein konnte. Ganz nach meinem eigenen Anspruch. Dafür wählte ich die Abendstunden. Mir war es schon immer wichtig, ohne Kummer einschlafen zu dürfen. Das Zubettgehen wurde bei uns zu einer Zeit, bei der es friedlich zuging. Es gab weder Drohen, Schimpfen, Antreiben noch Alleinlassen. Stattdessen blieb ich gelassen. Ich half beim Umziehen, kuschelte, las und sang vor und bedachte alle mit einem liebevollen Gute-Nacht-Spruch. Diese Rücksichtnahme auf die abendlichen Bedürfnisse aller verstanden die Geschwisterkinder bald.

Ohne Angst und Sorgen einschlafen dürfen funktioniert sogar im Koffer (für euch getestet)

Meine Konklusion

Um es mit ein paar Sätzen auf den Punkt zu bringen: Ich bereue meine Entscheidung für ein Leben mit dem Verzicht auf Erziehung nicht. Es gab und gibt Situationen, in denen man von seinen Idealen wegrutscht. Es passiert, weil man selbst erzogen wurde – klassisch durch Mischformen der demokratischen, autoritären und antiautoritären Stile. Wenn einem Erziehungsfehler passieren, werden die Selbst-Reflexionen umso spannender. Denn durch die Begleitung junger Menschen auf Augenhöhe kommt man meiner Meinung nicht um die Aufarbeitung des eigenen Kinderstübchens herum. Vielleicht wird dabei auch mal etwas auf psychologischer Ebene übertrieben. Ich konnte das Weinen von Babys (auch von fremden) emotional oft nur schwer ertragen. Kann es daran liegen, dass ich als Neugeborenes wie die meisten anderen meiner Generation nach der Geburt von meiner Mutter getrennt wurde? Oder taten mir die Jüngsten in der Kinderkrippe, in der ich arbeitete, einfach so leid, wenn sie der Trennungsschmerz quälte? Zur eigenen Psychohygiene darf man sich selbst in den Arm nehmen und sagen: „Das lief in meiner Kindheit schief. Das war nicht okay. Heute stehe ich hier und mache es für mich und die nächste Generation besser.“

Ich freue mich auf die nächsten Jahre mit allen Höhen und Tiefen im Leben unerzogener Kinder und Teenies …

teeniehund

Unser Hund ist auch so unerzogen ganz nett

… und unerzogener Hunde. :-)

Ciao Kakao, eure Evelin

Hieflau

CC BY-SA 4.0 Zehn Jahre ohne Kindererziehung – ein Rückblick von Free Your Family ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.