Habt ihr euch schon einmal gefragt, was hinter dem Konzept des Freilernens oder Unschoolings steckt? Häufig von Missverständnissen und Klischees umgeben, verbirgt sich doch so viel mehr dahinter. In diesem Artikel erkunden wir, was Unschooling wirklich bedeutet, wie es sich von etablierten Bildungswegen unterscheidet und warum es eine bereichernde Alternative sein kann. Von den Ursprüngen in den 1970er Jahren mit John Caldwell Holt bis zur modernen Umsetzung in Familien heute – lasst euch inspirieren und vielleicht sogar ein wenig herausfordern, über eure eigenen Vorstellungen von Bildung und Lernprozessen neu nachzudenken.
Unschooling: selbstbestimmte Bildung jenseits der Klischees des Freilernens
Liebe Leser*innen, was kommt euch in den Sinn, wenn ihr an „Freilernen“ denkt?
Ich assoziiere den Begriff natürlich in erster Linie mit dem, was meine Kinder tun. Doch so geht es den wenigsten. Freilernen wird oft missverstanden und es kursieren viele Klischees:
- Die Kinder toben wie irre über Tisch und Bänke.
- Sie pauken vornehmlich Esoterik oder Flacherdler-Theorien, um eines Tages Quanten-Quarkberater zu werden.
- Alternativ werden sie zu redlichen Mitgliedern irgendeiner Sektengemeinschaft herangezogen.
Entwarnung: Nichts davon trifft zu. Freilernen ist wirklich etwas ganz anderes. Ich bevorzuge allerdings den Begriff Unschooling oder auch „selbstbestimmte Bildung“. Damit hoffe ich, nicht so schnell in die Ecke der Kristall-Kaffeesatzleser gestellt zu werden.
Unschooling entstand als Bildungsphilosophie in den 1970er Jahren mit John Caldwell Holt. Er begann seine Karriere als Lehrer in den USA. Zunächst war er für seine strenge Notengebung bekannt. Sein konventioneller Blick auf die Schüler änderte sich. Durch seinen Umgang mit Kindern und seine Beobachtungen stellte er fest, dass Kinder ohne Angst effektiver lernen.
Seine Erkenntnisse hielt John Holt in Büchern wie „How Children Fail“ und „How Children Learn“ fest, die sich millionenfach verkauften.
Überwindung von Angst und Scheinbildung im Lernprozess
Das mag uns heute einleuchten. Aber in der Regel ist die Schule noch immer kein Ort, der Kindern ein angstfreies Umfeld bietet. Lernen ist nicht frei von Versagensängsten oder der Furcht, dumm zu erscheinen oder kritisiert zu werden.
Ein weiteres Argument von Holt war, dass Schulbildung allzu oft eine „Scheinbildung“ sei. Die Schulkinder bestehen zwar die Prüfungen, behalten das Wissen aber nicht effektiv im Gedächtnis. Wir nennen das heute „Bulimie-Lernen“.
John Holts Kritik am traditionellen Schulsystem: Lernen als Teil des Lebens
John Holt hielt das Schulsystem für grundlegend falsch. Der Kinderrechtsaktivist und Autor war der Meinung, dass es ein Fehler sei, das Lernen vom Rest des menschlichen Lebens zu trennen. Kinder werden oft als leere Blätter betrachtet, die von Erwachsenen programmiert werden müssen. Dabei sind sie von Natur aus neugierige und fähige Autodidakten. Die Idee eines Ortes, der ausschließlich dem Lernen gewidmet und vom übrigen Dasein isoliert ist, erschien Holt als Irrweg.
Die Unschooling-Philosophie: Freiheit und Partnerschaft im Lernprozess
Beim Unschooling steht die Lernfreiheit im Vordergrund. Der junge Mensch darf selbst wählen, was, wann, wie und von wem er lernt. Diesem Ansatz liegt die Überzeugung zugrunde, dass Kinder, wenn sie die Gelegenheit dazu erhalten, auf ganz natürliche und intuitive Weise aus ihrer eigenen Erfahrungswelt lernen. Sie gehen ihren Interessen nach und lernen so, wie es zu ihnen passt. Holts Philosophie betont die Partnerschaft beim Lernen und nicht die Dominanz der Wünsche des Kindes oder der Eltern.
Unschooling vs. Homeschooling: Verständnis und Missverständnisse
Unschooling gilt als eine Unterform des Homeschooling. Dennoch handelt es sich um zwei verschiedene Paar Schuhe. Beim Homeschooling folgt man einem strukturierten Lehrplan. Oder die Eltern meinen, das Kind müsse unbedingt dieses oder jenes lernen. (Und damit wären wir wieder in der Ecke der Kristall-Kaffeesatzleser und Mondlicht-Coaches). Unschooling bedeutet nicht, dass die Eltern (oder eine App) zu Hause Lehrer spielen.
Holt gebrauchte zunächst den Begriff „Entschulung“ (Deschooling), um seinen Ansatz zu beschreiben. Allerdings ging es ihm dabei wohl wie uns Deutschen mit dem Begriff „Freilernen“. Es wurde mit Homeschooling gleichgesetzt. Aber genau das trifft Holts Philosophie nur unzureichend. Sie verlangt nicht, dass etwas zu Hause stattfindet. Sie hat nichts mit klassischen Unterricht zu tun. Unschooling konzentriert sich vielmehr auf die Idee, dass Kinder von Natur aus soziale und neugierige Wesen sind.
Lernen ist ein integraler und natürlicher Teil ihres Lebens. Es ist nichts, was separat und institutionell gesteuert werden muss. Es kann überall geschehen, weshalb Unschooling zum Beispiel mit Reisen oder dem Aufenthalt in der Natur vereinbar ist.
Der lebenslange Lernprozess und die Rolle der Eltern als Lernbegleiter*innen
Bildung bleibt nach Holts Philosophie (und der vieler Hirnforscher) ein lebenslanger Prozess. Niemand sagt: „So, nun bist du sechs Jahre alt. Da mach‘ mal schön Unschooling“. Eltern von Unschoolern wenden keine spezifischen Methoden an, um ihren Schützlingen etwas beizubringen. Das Lernen ist nicht auf bestimmte Weltanschauungen beschränkt.
Wir Eltern verstehen uns als Lernbegleiter. Wir versuchen, unsere Umgebung so zu gestalten, dass sie die Neugier der Kinder anregt. Unterstützt wird, was das natürliche Lernen erleichtert.
- Die Tochter begeistert sich für das Thema Geburt? Auf zum nächsten Vorstellungsabend im Kreißsaal!
- Die Jungs spielen Bergretter? Gebt ihnen Wäscheleinen und sie trainieren das gesicherte Abseilen über das Hochbett.
- Ein Kind kann sich nicht mit der Schreibschrift anfreunden, will aber doch schreiben lernen? Da entdeckt es den alten Duden im Schrank und eignet sich die Sütterlinschrift an. Und bald darauf entwickelt sich die lateinische Kurrentschrift wie von selbst.
Wie Kinder ohne Anleitung und Unterricht schwimmen lernen, könnt ihr hier nachlesen.
Es ist wie in freien Schulen (nicht zu verwechseln mit Schulen in freier Trägerschaft): Pädagogen und Pädagoginnen sind Unterstützer. Sie fungieren nicht als Autoritätspersonen. Sie helfen dabei, geeignetes Material zu finden und stehen für Recherchen im Internet bereit. Für gewünschte Experimente tragen sie die notwendigen Dinge zusammen. Bei Unklarheiten vermitteln sie oder stehen für Fragen und gemeinsames Forschen zur Verfügung.
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Formen des Unschooling
In Deutschland ist es bisher nicht üblich, „Unschooling“ noch einmal zu unterteilen. Im englischsprachigen Raum gibt es jedoch verschiedene Ausprägungen des Unschoolings, die sich in ihrem Ansatz und ihrer Philosophie unterscheiden.
Hier sind die sieben Unschooling-Formen, die Gessell von „The Realistic Homeschool Mama“ zusammengetragen hat:
- Unschooling: Basierend auf der Philosophie, dass Kinder am besten in ihrem eigenen Tempo und durch das Verfolgen ihrer eigenen Interessen lernen, ohne durch starre Strukturen oder Lehrpläne eingeschränkt zu werden. Unschooling fördert ein Umfeld, das die natürliche Neugier der Kinder unterstützt und ihnen ermöglicht, frei von vorgefassten Erwartungen zu lernen.
- Radical Unschooling: Geht über Bildung hinaus und wendet die Unschooling-Philosophie auf alle Lebensbereiche an. Radical Unschoolers sehen die Beziehung zu ihren Kindern eher als partnerschaftlich an und versuchen, autoritäre Beziehungen zu minimieren und Autonomie in allen Lebensbereichen zu gewähren.
- Eclectic Homeschooling: Umfasst die Schaffung einer maßgeschneiderten Bildung durch die Kombination verschiedener Ressourcen und / oder Stile des Homeschooling. Dieser Ansatz kann auch Unschooling-Elemente einschließen und wird individuell an die Stärken, Interessen und den Entwicklungsstand jedes Kindes angepasst.
- Wildschooling: Eine Bildungsbewegung, die unsere natürliche Verbindung zur Natur würdigt und Kreativität, Neugier und Freude fördert. Wildschooling schöpft aus verschiedenen Quellen und Philosophien, darunter Waldpädagogik, Earth Schooling, Waldorf und andere.
- Nature Schooling: Führt Kinder zurück in die Natur, wo sie ihren eigenen Lernweg entwickeln. Diese Form des Unschooling unterstützt die Überzeugung, dass die Natur der beste Lehrer ist und dass Kinder am besten lernen und wachsen, wenn sie Zeit im Freien verbringen und dort spielen.
- Delight Directed Learning („Freudegeleitetes Lernen“): Kann als Teil des Homeschooling eingesetzt werden, wobei das Lernen nicht immer einem festgelegten Lehrplan folgt, sondern sich an den Interessen und der Freude des Kindes orientiert.
- World Schooling (Bildung in aller Welt): Bildung durch Reisen. Worldschooler reisen oft von Ort zu Ort auf der Suche nach konkreten Lerngelegenheiten. Manche wählen Unschooling für ihre Kinder, andere folgen einem festen Lehrplan.
Jede dieser Formen von Unschooling hat ihren eigenen Ansatz und ihre eigene Philosophie, was zeigt, wie vielfältig und anpassungsfähig Unschooling sein kann.
Ein Plädoyer für die Gleichbehandlung von Unschooling im Bildungssystem
Im Rahmen unseres Engagements für eine vielfältigere Bildungslandschaft in Deutschland wünschen wir uns, dass Unschooling als legitimer und gleichberechtigter Bildungsweg neben der traditionellen schulischen Bildung anerkannt und gefördert wird.
Interessanterweise zeigt eine Erhebung des Statistischen Bundesamtes, dass in Deutschland im Jahr 2021 im Schnitt 9.200 Euro pro Schüler an öffentlichen Schulen aufgewendet worden sind.
Diese Zahl spiegelt die beträchtlichen Investitionen des Staates in das traditionelle Schulsystem wider. Während diese zweifellos wichtig sind, um eine qualitativ hochwertige Bildung für alle zu gewährleisten, werfen sie gleichzeitig die Frage auf, wie Ressourcen für alternative Bildungswege wie das Unschooling bereitgestellt werden könnten.
Die Anerkennung und Förderung des Unschoolings als gleichwertigen Bildungsweg eröffnet jungen Menschen ein breiteres Spektrum an Lernmöglichkeiten, die ihren individuellen Bedürfnissen und Interessen entsprechen. Ein solcher Schritt würde nicht nur die Bildungslandschaft bereichern, sondern auch ein deutliches Bekenntnis für Innovation und Flexibilität im Bildungsbereich sein – für eine zukunftsfähige, inklusive und kreative Gesellschaft.
Zusammenfassung und Fazit: Unschooling als Weg zu einer natürlichen und selbstbestimmten Bildung
Unschooling wird auch als „Freilernen“ oder „außerschulisches Lernen“ bezeichnet und basiert auf der Überzeugung, dass Kinder am besten lernen, wenn sie ihren eigenen Interessen folgen können, unterstützt durch Eltern, Geschwister oder externe Lehrkräfte (zum Beispiel andere Erwachsene, die über spezifisches Wissen oder Fertigkeiten verfügen, für die sich die Kinder gerade begeistern).
Es gibt einige zentrale Prinzipien, die das Unschooling charakterisieren:
- Selbstbestimmtes Lernen: Kinder wählen ihre eigenen Lernthemen und -methoden und setzen sich ihre eigenen Lernziele, geleitet von ihren Interessen, ihrer Neugier und ihrem Enthusiasmus.
- Flexible Lernumgebung: Unschooling findet im gewöhnlichen Leben statt, ohne feste Stundenpläne oder vorgeschriebene schulähnliche Aktivitäten.
- Rolle der Eltern und anderer Erwachsener: Sie fungieren als Lernbegleiter und Unterstützer, nicht als Unterrichtende.
Die genaue Ausgestaltung des Unschoolings kann je nach Familie und individuellen Bedürfnissen der Kinder variieren. In Deutschland ist diese Form des Lernens durch die bestehende Schulpflicht (auch gerne „Schulgebäudeanwesenheitspflicht“ genannt) rechtlich eingeschränkt.
Unschooling stellt das traditionelle Verständnis von Bildung in Frage. Doch vielleicht liegt darin auch der Ursprung des Lernens? Hunderttausende von Jahren hat der größte Teil der Menschheit schließlich keine Schule besucht.
Wie auch immer: Unschooling sollte als zusätzlicher Bildungsweg anerkannt und gefördert werden.
Sind die Voraussetzungen in Gesellschaft und Familie dafür gegeben? Dann spricht doch nichts dagegen, nicht wahr?
„Normalität verändert sich, Normalität ist prekär, also auch schnell zerstört; und Normalität hat auch eine Menge mit Ungleichheit und Herrschaft zu tun. Das, was als normal gilt, muss gar nicht die Mehrheitserfahrung sein, muss gar nicht das sein, was für viele, alle oder die große Mehrheit gilt.“ – Paula-Irene Villa Braslavsky
Mit lieben Grüßen für mehr Mut zur natürlichen Neugier und der Fähigkeit zur selbstbestimmten Bildung unserer Kinder!
Eure Evelin
Ein abschließender Lesetipp: Mehr als 10 Jahre „Unschooling“ in Deutschland
Ich möchte euch noch auf einen weiterführenden Artikel hinweisen: „Mehr als 10 Jahre ‚Unschooling‘ in Deutschland – Ein Rückblick und ein Ausblick“ vom unerzogen-Magazin. Dieser Artikel vermittelt nicht nur einen Überblick über die Entwicklung der schulfreien Bildung in Deutschland, sondern ist auch eine wichtige Stellungnahme gegen das Geschwurbel, das leider seit der Corona-Krise in einigen Unschooling-Kreisen zugenommen hat.
So verwundert es eben doch nicht weiter, dass die Politik bis heute nicht die geringsten Anstalten macht, dieses heiße Eisen anzufassen, wenn auch Ausarbeitungen des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages belegen, dass einige Politiker sich durchaus mit dem Thema auseinandersetzen.
Was ist Unschooling? – Selbstbestimmtes Lernen als kreative Bildungsalternative von Free Your Family ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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