Gut bei Wut: Tragen und Stillen

Die Autonomiephase: Der Volksmund bezeichnet das Autonomiebestreben bei Kleinkindern ab dem 2. Lebensjahr abwertend auch als „Trotzphase“, weil gelegentliche Wutanfälle an der Tagesordnung sind. Ich zeige Dir, wie stark sie bei meinem Jüngsten (knapp 1,5 Jahre alt) ausgeprägt ist und wie ich mein Kind liebevoll durch diese schwierige Zeit begleite.

Kinder in der Autonomiephase: Kleine Wutkästchen mit Motor

Heute Morgen habe ich mich dazu entschieden, Wutanfälle in kleinen Kästchen zu verkaufen. Sie rumpeln, sind laut und beginnen von jetzt auf gleich. Die Wutkästchen eignen sich als zuverlässige Wecker. Sie funktionieren ein- bis fünfmal mitten in der Nacht, frühs um 6.30 Uhr oder am späten Nachmittag.

Anzeige


Zum ersten Mal hätten wir bereits vor vier Tagen liefern können. Das kam so:

Wir sind in der Stadt unterwegs und schlagen zu fünft vom Parkplatz aus den 200 Meter langen Weg zur Bibliothek ein.

Noch bevor wir den Parkplatz verlassen, springt das Wutkästchen an. So wie ein alter Rasenmäher, dessen Benzinmotor durch Ziehen an einer Schnur gestartet wird: Unser Junge meckert, ist stumm, meckert, holt Luft, meckert, schreit, holt tiefer Luft und brüllt schließlich eindrucksvoll für die nächsten 180 Meter Fußweg.

Wütendes Kleinkind: „Ich will nicht, was Du willst!“

Die Kräfte meines Jungen wüten so sehr, dass ich ihn nicht mehr auf meinem Arm tragen kann. Bevor er sich verletzt, muss ich ihn auf dem gepflasterten Fußweg ablegen. 

Wer vermutet, dass der brüllende Motor jetzt „absäuft“, weil ein beruhigendes Grasbüschel im Weg ist, liegt falsch. Unser Kleinkind steht auf und stampft wütend ein paar Meter zurück gen Parkplatz. Ich gehe zu ihm, hocke mich vor ihn hin und zeige in die Richtung, in die wir laufen wollen. 

Er will nicht. Also zeige ich es ihm noch mal und nehme ihn dabei wieder hoch. Prompt beginnt der alte, kreischende Motor mich erneut kräftig durchzurütteln. Ich halte ein paar Meter durch, bevor sich das gleiche Spiel mehrmals wiederholt. 

Und was ist mit meinen Bedürfnissen?

Kleinkind will zum Papa auf den Arm und mitmachen

„Papa, ich will mitmachen“

Anzeige

Ich will meine anderen Kinder nicht schon wieder alleine mit ihrem Papa in die Bibliothek schicken! Das letzte Mal brachten sie nur „Schund“ mit heim. Niemand hatte den Mädchen geholfen, ihre Interessenbücher zu finden. Und ich möchte auch endlich mal wieder raus und mir selbst  Literatur auswählen!

Im Haus, in dem die städtische Bibliothek untergebracht ist, hoffe ich, dass die neue Umgebung den Motor verstummen lässt. Doch die Töne meines kleinen Jungen schallen hier umso stärker. Mein Mann und die Mädchen gehen schon mal alleine voraus.  

Schade! Eigentlich wollte ich in die Bibliothek gehen! Ich hatte mich seit Wochen darauf gefreut und selbst den Kleinen auf jeden Schritt vorbereitet. Doch ich kann sehr gut zurückstecken. Ich bin seit sechs Jahren Mutter. Und Ehefrau. 

Gelassen auf Wutanfälle bei Kleinkindern reagieren

Durch die gute Schulung durch die ausgeprägte Autnonomiephase meiner ältesten Tochter bin ich heute in der Lage, gelassen zu bleiben, wenn mein Junge einen Wutanfall bekommt. 

Es hilft nicht, dem dröhnenden Motor etwas Benzin (in Form von Muttermilch) anzubieten. Und Benzintabletten (auch als Süßwaren bekannt) würden mein Kind nur kurz beruhigen. Zudem würde er sich für den Rest seines Lebens einbilden, das wäre die Lösung seiner Probleme. Ich herze meinen Jungen, spreche in sanfter Stimme zu ihm und singe ihm leise vor. 

Mein Eineinhalbjähriger trommelt gegen die Ausgangstür des Hauses. Also gut! Ich öffne die Tür und kehre mit ihm zurück zum Parkplatz, wo alles Übel begann. Ich nehme an, dass er sich noch einmal an der metallenen Parkplatzbegrenzung festhalten will, wie er es zuvor mit seinen Schwestern tat. 

Zap some sats our way – it's all about value for value!

Bitcoin Lightning QR-Code

Unterstütze uns via Bitcoin Lightning Network mit ein paar sats direkt an: [email protected]

Er krallt sich an die Metallstangen, holt tief Luft und … schreit weiter. 

Ich versuche noch eine ganze Menge in aller Engelsgüte und Geduld. Weil aber alles nicht hilft, entscheide ich mich, wieder zur Bibliothek zu laufen. Diesmal bebt das Motörchen nur zwei mal derart heftig, dass ich es kurz ablegen muss. Inzwischen rinnen dicke Tränen über die Wangen meines geliebten Sohnes.

Kurz vorm Eingang der Bibliothek scheint er sich beruhigt zu haben. Was für ein Segen! 

Zu früh gefreut …

Im Treppenhaus ist die Wut plötzlich wieder da. Laut, schallend und unendlich traurig. Eine andere Frau kommt hinzu und unterhält sich freundlich mit uns. Mein Sohn bleibt weiterhin schreiend und schluchzend auf den Treppenstufen liegen. Er schaut dabei nur kurz auf. 

Dann stemmt sich das Männlein wütend von der Treppe ab. Ich fange meinen stocksteifen Jungen auf und trage ihn die letzten Stufen hinauf zur Bibliothek. Mein Mann nimmt ihn mir ab. Ein paar tiefe Seufzer, und das Wutkästlein ist für den restlichen Tag nicht mehr lieferbar.

Was es mit der Autonomiephase auf sich hat

Kleinkind will eine Kerze anzünden

„Ich kann die Kerze schon ganz allein anzünden.“

Bei vielen Kindern erreicht der bei 1- bis 5-jährigen als „Wut- oder Trotzphase“ abgewertete Entwicklungsabschnitt ihren Höhepunkt im Alter von drei Jahren. Manche Kinder bleiben hiervon aber auch verschont – wie unser zweites Kind. 

Du hast richtig gelesen: Es handelt sich nicht um eine „Trotzphase“. Wenn Kinder sich in den Augen Erwachsener trotzig und wütend aufführen, liegt das nicht daran, dass sie ihre Eltern ärgern oder deren Grenzen testen wollen. Nein, die Kleinen werden selbstständig bzw. „autonom“. Wäre es in Anbetracht dessen nicht besser, diese Zeit wertschätzend „Autonomiephase“ zu nennen?

Wenn das Kleinkind auf eigenen Beinen stehen muss

Mein Sohnemann durfte so lange in meinem Bauch wohnen, wie er wollte. Nach der Geburt blieb ich weiterhin eng mit ihm verbunden. An der Brust, in meinen Armen, in meinem Bett. Jeden Tag von mir selbst betreut. 

Vor ein paar Monaten begann er, auf eigenen Beinen zu stehen – im wahrsten Sinn des Wortes. Er erkannte, dass wir nicht aneinanderkleben.

Da ist keine Nabelschnur oder Brust, die uns den ganzen Tag verbindet. Und meine Hände haften nicht zwingend an seinem Körper, um ihn beim Laufen zu stützen oder aufzufangen. 

Schlicht: Mein Kind wird und denkt autonom. Manchmal will er etwas unbedingt alleine machen. Ohne die Person, an der er so lange „klebte“. Dabei zeigt er sich: der eigene Wille. Der EIGENE! Was für eine Entwicklung! 

Der Ärger, wenn es nicht klappt

Kleinkind in der Autonomiephase: "Lass mich allein fahren ... und feilen!"

Kleinkind in der Autonomiephase: „Lass mich allein fahren … und feilen!“

Oft klappt diese eine Sache, die sich das Kleinkind vorgenommen hat. Aber manchmal eben nicht. Dann meldet sich der ruckelnde, dröhnende Rasenmäher, weil er doch noch den alten Fahrer (mich) dazu braucht. Doof nur, wenn ich 200 Meter über Pflastersteine fahren will, statt an den abenteuerlichen Metallstangen innezuhalten.

Das kleine Wutkästchen – oder nennen wir es jetzt lieber „Autonomie-Kästchen“ – bleibt unberechenbar. Am allerbesten kann es bei der engsten Vertrauensperson loslegen. Schließlich taugt nicht jeder zum Fahrer eines alten Benzinrasenmähers. Ich spreche da aus Erfahrung; Zuhause bei meiner Mutter ließ ich „die Sau ’raus“, doch kam jemand dazu, verwandelte ich mich schnurstracks zu einem „braven“ Mädchen. 

Heute darf ich meinem Kind sagen: „Es ist mir eine Ehre, dich in dieser für dich wichtigen Phase in Ruhe und Gelassenheit begleiten zu dürfen. Ich verstehe dich und helfe dir, wenn du das möchtest. Es ist in Ordnung, wenn etwas nicht funktioniert. Manchmal sind hohe Grasbüschel oder Pflastersteine im Weg. Du wirst lernen, ihnen auszuweichen, oder Schwung zu holen, um sie zu überwinden. Irgendwann bekommst du den Dreh raus.“

Folgende Ratschläge für die Autonomiephase ignoriere ich:

  • Wutanfälle ignorieren. Das würde das Problem nämlich nur verstärken. (Ist klar. Mach ich mit meinem Mann auch immer so. Wenn er fragt, woher die riesige Delle am Auto kommt, reagiere ich einfach nicht drauf. Stärkt die Beziehung.)
  • Immer Recht behalten. Selbst dann, wenn sich herausstellt, dass das Kind eigentlich doch nicht falsch lag. (Das stärkt sein Selbstbewusstsein.)
  • Das Kind auf sein Zimmer schicken bzw. bringen. (Werde ich also auf die Delle am Auto angesprochen, schicke ich meinen Mann zur Bestrafung gleich in die Garage. Mag er dort alleine weiter wüten.)
  • Den Zornausbruch niemals zum Erfolg führen lassen. (Kinder wollen uns nämlich nur manipulieren! Diese Tyrannen! Schreikinder! Sowas…)

Ich muss nicht zu allem „Ja“ sagen. Doch ich zeige meinem Kind, dass ich es sehe und verstehe, auch wenn ich seinen Wunsch nicht erfülle. Ärger und Wut sind natürliche Gefühle für gesunde Konflikte, die Frustrationstoleranz lehren.

Ich überlege mir: Was ist es wert, dem kleinen Jungen ein braves und angepasstes Verhalten anzudressieren? Das würde meinen Alltag stressiger und komplizierter machen. Es brächte immer weitere Konflikte und Herausforderungen mit sich – aber keine neuen Konfliktlösungsmöglichkeiten. Mein Kind soll lernen, dass es einen eigenen Willen hat. Einen Willen, der etwas wert ist.

Verständnisvoll durch die Wut in die Selbstständigkeit

Ich möchte all denen Mut schenken, die ihren Rasenmäher alleine fahren und den Griff nicht abgeben können. Ich habe bei unserer ersten Tochter genau das durchgemacht, da Patrick vor seinem Schritt in die Selbständigkeit nur selten zuhause war. 

Als heute Morgen die Idee des Wutkästchens aufkam, war meine Große jedoch die Einzige, die helfen konnte. Mein kleiner Junge stapfte durch den Flur, schmiss sich wütend auf den Boden. Er ärgerte sich darüber, dass er so zeitig wach wurde.  Ich hockte neben ihm und streichelte ihm lediglich sanft den Rücken. Mehr konnte ich nicht tun.

Da kam meine Große, die über mehrere Jahre die gleichen Gefühle durchmachte und sprach: „Komm, kleiner Bruder! Ich bin da. Du brauchst nicht traurig sein, dass du schon wach bist. Das gehört zum Leben. Willst du mit mir zurück ins Bett gehen und kuscheln?“ 

Und schon war die Wut beim kleinen Mann fort. Die Autonomie aber blieb: Lächelnd bestimmte mein Sohn darüber, doch wieder ins Bett zu krabbeln.

Kraft, Geduld und Liebe allen Rasenmähern und ihren „Besitzern“!
Deine Evelin

CC BY-SA 4.0 Die Autonomiephase: Wutanfälle bei Kleinkindern bedürfnisorientiert begleiten von Free Your Family ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.