Liebe (unerzogene) Freunde, Haar-Feen und Dreadlock-Fans,
als meine Kinder klein waren, habe ich sie nie gezwungen, sich die Haare zu bürsten. Wir pflegten die Haare der Kinder nach Bedarf und wuschen sie ausschließlich mit Wasser. Die blonden Mähnen kämmten wir mit Anti-Ziep-Bürsten – aber nur, wenn die Kinder dazu bereit waren. Ab und zu halfen wir mit etwas Kokosöl nach, um die Haarspitzen zu pflegen. Alles ohne Zwang, Gewalt oder Überredung. Folglich konnten unsere Kinder nie mit Elsa-Zöpfen oder Engelslöckchen prahlen. Dafür blieben ihnen der Pflege-Stress und strenge Eltern erspart. Trotzdem kamen neben meinen Töchtern auch mir die wilden Mähnen zugute. Hätte meine oberste Priorität „Ordnung und Anerkennung durch konservative Fremde“ statt „Freundschaft mit den Generationen nach mir“ geheißen – ich hätte bis heute nie die Herzensmenschen kennengelernt, die wirklich zu mir passen.
Es begab sich in Ägypten. Wir waren vor dem deutschen Winter in das Land der Pyramiden geflohen. Unser drittes Kind war noch ganz „neu“, erst wenige Monate alt. Unsere beiden großen Töchter zählten fünf und drei Jahre. Eigentlich auch noch ziemlich jung. Doch an ihren Köpfen sah man, dass sie schon mehr erlebt hatten als unser glatzköpfiges Baby: Ihre Haare waren lang, ein wenig zerzaust und alles andere als ordentliche Prinzessinnenfrisuren.
Das lag nicht etwa daran, dass wir mit dem neuen Baby überfordert gewesen wären, die Körperhygiene von drei Kindern in den Griff zu bekommen. Es lag auch nicht daran, dass wir als Öko-Eltern sowieso vorhatten, den Kindern Dreadlocks zu filzen. Natürlich verwendeten wir die Haarbürsten für die kleinen Blondschöpfe nicht täglich – anders als die Zahnbürsten. Unser Hauptaugenmerk lag und liegt auf einer zwanglosen Beziehung zu den Kindern. Doch davon später mehr.
Die Ägypter machten auf uns einen entspannten Eindruck. Niemand schien ein Problem darin zu sehen, wenn Kinder barfuß durch die Straßen liefen, in einem Geschäft laut zu singen begannen, mit einem alten Autoreifen spielten oder eben ungebürstetes Haar und ein schmutziges Kleidchen trugen.
Stellt euch das mal in Deutschland, der Schweiz oder Österreich vor! (BTW: Ich sollte mal ein Schwiegermutter-Smiley kreieren, das die Hände über dem Kopf zusammenschlägt, oder?)
Bei einem Spaziergang durch die Gassen von Hurghada fiel mir ein Kind auf, das meinen Töchtern zum Verwechseln ähnlich sah. Die Füße nackt, das Kleidchen ungebügelt, die blonden Haare zerzaust, das Spiel unbekümmert.
Und die Mutter? Sie wirkte „ganz normal“. Zumindest Kleider, Haut und Haare waren gepflegt. Auf mich machte sie keinen durchgeknallten Eindruck. Aber der ruhige und besonnene Umgang mit ihrem Kind kam mir ungewöhnlich vor: Schließlich schien sie wie ich ein Tourist aus dem Westen zu sein. Mit ihrer Tochter wohnte sie allem Anschein nach ganz in der Nähe unseres Bungalows. Dann sind wir uns begegnet und haben uns aus der Nähe beschnuppert. Zum Abendessen suchten wir dasselbe Restaurant auf. Schüchtern, wie ich war, schob ich meine Kinder vor: „Töchterchen, schaut doch, das Mädchen dort ist sicher auch so alt wie ihr. Wollt ihr sie nicht fragen, ob sie mit euch spielen möchte?“
Die andere Mama flüsterte ihrer Tochter ebenfalls etwas ins Ohr. (Später gestand sie mir, dass sie ihre Tochter auch zu uns schicken wollte, weil ihr die „wilden Mähnen“ unserer Kinder aufgefallen waren).
„Helloooo!“
„Hellooo!“
„Ich bin aus Deutschland!“
„Oh hallo! Ich bin auch aus Deutschland!“
„Wir sprechen deutsch.“
„Toll! Ich spreche auch deutsch.“
Es bestätigte sich: Mit Kind oder Hund kommt man schneller mit anderen ins Gespräch. Wir freuten uns, dass wir uns dank unserer ungebürsteten Töchter kennengelernt hatten. Ein Blick auf den Teller im Restaurant brachte eine weitere Gemeinsamkeit zum Vorschein: „Ihr lebt ja auch vegan! Genau wie ich! Toll!“
Strandspaziergänge, Straßenkatzen befreien, Einkäufe, Ausflüge – all das machten wir nun gemeinsam. Dabei entdeckten wir eine weitere geistige Verbindung: Wir lebten unerzogen, ohne Kita und mit dem Wunsch, unsere Kinder später ohne Schule aufwachsen zu lassen. Bis heute besuchen wir uns ab und zu. Wir sind immer noch Freundinnen – auch unsere inzwischen schulfrei lebenden Töchter.
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Diese nicht an den Haaren herbeigezogene Geschichte ist nun bald sieben Jahre her. Meine beiden Töchter tragen immer noch lange Haare. Sie kämmen sich ihre Haare auch heute noch so, wie sie gerade Lust haben. Die eine mehr, die andere weniger. Die zwei Jungs, die unsere Kinderschar inzwischen komplettieren, haben wir weder zum regelmäßigen Kämmen noch zum Haarewaschen gezwungen. Sie trugen auch keine typischen Kurzhaarfrisuren. In Familien, deren Kinder gleichwürdig und ohne den alltäglichen Erziehungswahnsinn aufwachsen, sind lange Haare sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen keine Seltenheit. Die Bewegung „Mein Körper – meine Rechte“ brauchte nicht erst an die Türen der Eltern klopfen, die auf Beziehung statt Erziehung setzen. Uns Eltern ist es nicht wichtig, dass sich unser Nachwuchs an überholte Gepflogenheiten anpasst. Das heißt aber nicht, dass wir keinen Wert auf Körperhygiene legen.
Wie andere Anhänger der Antipädagogik können auch wir Eltern mit unseren Kindern auf eine freundschaftliche und nicht überredende Weise darüber sprechen, warum gesunde Ernährung, gründliches Zähneputzen und tägliche Hygiene wichtig für unser Wohlbefinden sind. Selbst wenn die Kinder noch sehr jung sind, finden wir spielerische Wege, um ihre Gesundheit liebevoll zu unterstützen. Ich mache mir bewusst, was für mich und das zukünftige Leben der Kids wirklich zählt.
In Leserbriefen, persönlichen Nachrichten und Kommentaren spüre ich oft die Erschöpfung anderer Eltern:
„Unsere Jungs im Schulalter tragen langes Haar. Ständig sprechen uns fremde Leute darauf an, sie sollten sich die Haare schneiden“.
„Verwandte reden meinem Vierjährigen bei jeder Gelegenheit ein, er sei ein Mädchen. Alles nur, weil er schulterlange Haare oder einen Zopf trägt.“
„‚Ihr solltet eurer Tochter endlich die Haare schneiden! Das sind ja nur noch dünne Zudeln‘, befahlen uns die Großeltern neulich wieder.“
„Als wir mein Kind nach einem Wochenende bei den Schwiegereltern abholten, fiel ich aus allen Wolken. Sie hatten meiner Tochter nicht nur mehrmals die Haare mit konventionellen ‚Pflegeprodukten‘ gewaschen, sondern ihr auch noch ungefragt einen Pony verpasst. Ich war schockiert.“
Neben den Mitteilungen von Eltern erreichen mich auch Nachrichten von Menschen, die sich über Kinder (und deren Haare) regelrecht empören. Um eure Nerven zu schonen, veröffentliche ich nur die jüngste, die mich vor ein paar Tagen über Instagram erreicht hat. Zuvor hatte ich ein Foto von unserem Zahnarztbesuch gepostet.
„Wenn ich die Haare sehe deiner Tochter tut mir das jetzt schon weh, wenn ich ans Waschen und Kämmen denke. Die Arme. … Wenn man den Kindern sagt: „So, bitte Zähne putzen gehen!“, dann sollte das normal sein. Genau wie Haare waschen, eine Pflege rein, kämmen, trocknen lassen, damit sie nicht verknoten, einen Zopf flechten. Schon hat man weniger Theater am Abend. Das ist kein Befehl, sondern ein Erinnern, dass es so gemacht werden muss. Da hat es kein Theater zu geben.
Bestimmte Abläufe sollte es geben. Das ist auch für kleine Kinder nicht schlimm. Sie werden immer mit Regeln konfrontiert werden. Man muss liebevoll sein … aber man muss sie nicht in Watte packen. Sie müssen Regeln, Grenzen und Konsequenzen lernen. Es gibt Sachen, die müssen gemacht werden. Ob man will oder nicht. Wenn sie später in die Schule und arbeiten gehen, dann gibt es auch Grenzen und Regeln. Das darf dann nichts Neues sein.“
Na, treibt euch diese kleine Rede darüber, wie man mit Kindern was zu machen hat, auch Schweißflecken ins Shirt? Sollen wir aus diesem gut gemeinten Rat wirklich schließen, dass Kinder mit ungekämmten Haaren im Unterricht schwatzen, dem Lehrer gegenüber respektlos sind und dem Chef eines Tages auf den Tisch kacken?
Unerzogen ist nicht gleich Laissez-faire. Schade, dass sich das noch nicht herumgesprochen hat! Die Anhängerinnen und Anhänger der Unerzogen-Bewegung überlassen die Kinder nicht sich selbst! Für uns sind Kinder vollwertige Menschen mit eigenen Rechten. Diese müssen sie sich nicht erst erarbeiten oder verdienen. Wir achten ihren Körper und ihre Gefühle. Und wir bemühen uns, die Bedürfnisse aller Familienmitglieder zu respektieren. (Der Wunsch der Oma nach geflochtenen Zöpfen oder Bubi-Frisuren beim Enkel gehört nicht dazu.)
Mögen die Struwwelhaare euch zueinander führen! ;-)
Eure Evelin
Kinder mit ungepflegten Haaren: Generationsopfer erziehungsfrei? von Free Your Family ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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