Wir trafen uns am 3. März 2017 zu einem Interview mit André Stern. Der Musiker, Komponist, Journalist, Gitarrenbaumeister und Autor mehrerer Bücher wurde 1971 in Paris geboren. Obwohl (oder weil?) er nie eine Schule besucht hat, ist er ein glücklicher Mensch, der sich beruflich und sozial erfüllt fühlt. Er unterrichtet Musik und fesselt international unzählige Menschen mit seinen Vorträgen über die Bedeutung des Spiels und der Begeisterung. Ich interviewte ihn vor seiner Rede in der Messe Erfurt zur „Ökologie der Kindheit“, einer neuen Haltung gegenüber Kindern, deren Fundament gegenseitiges Vertrauen ist. Wir redeten über das Lernen ohne Schule, die Pubertät und Konflikte, aber auch über seine eigene Kindheit. Außerdem erfährst Du, was er zur „Sozialisierung“ und Erziehung von Kindern denkt und was Regeln, Grenzen und Rituale für die jungen Menschen bedeuten.
André Stern: der erste „Freilerner“, den ich kannte
Ich freue mich, dass ich heute ein Gespräch mit André Stern führen darf. André, du warst der erste Freilerner, von dem ich erfahren habe. Das war vor vielen Jahren, als ich eine Reportage sah. Da war dein Antonin noch ganz klein und für mich gab es einen Aha-Effekt und einen Juhu-Effekt.
Einen Aha-Effekt, weil ich für mich dann noch mal feststellen konnte: Lernen geht tatsächlich mit Spaß und ohne Beschulung. Und der Juhu-Effekt kam mir, weil ich für meine eigenen Kinder dann sagen konnte: Juhu, sie müssen mal nicht in die Schule gehen und auch kein Homeschooling zu Hause machen.
Ich habe dir ja schon erzählt, dass wir das Interview gern in unserem Blog veröffentlichen. Und deshalb freuen sich mit mir auch schon viele andere Follower und Youtuber und unsere Leser und sie haben mir auch einige Fragen mitgegeben, die ich an dich richten soll.
André Stern: Okay das ist gut. Da freue ich mich drauf.
Die Pubertät – über Pubertätskrisen, das Lernen und die Begeisterung
Eine ist zum Beispiel, dass uns Freilerner-Familien ja immer wieder vorgeworfen wird, dass es mit dem Lernen spätestens dann vorbei ist, wenn die Kinder in die Pubertät kommen. Und ich weiß ja aus deinen sehr empfehlenswerten Büchern (wie ich finde), dass das bei dir nicht der Fall war. Also du hast nicht gegen deine Eltern rebelliert. Und du hast die neue Kraft in dir entdeckt, um wieder Neues zu erforschen. Man kann also nicht sagen, dass das Lernen dann in der Pubertät …
André Stern: Wer sagt denn, dass das Lernen mit der Pubertät aufhört? Also das habe ich ehrlich gesagt … also ich habe schon viele Fragen gehört und viele Einwände und auch Kritik. Aber das? Man weiß doch notorisch, dass das Lernen nie aufhört. Man weiß, dass man bis 20 Minuten vor dem eigenen Tod noch lernt, wenn man auf den Knopf drückt.
Ich habe das Glück, mit dem Hirnforscher Gerald Hüther zu arbeiten. Er sagt zum Beispiel: ein 85-jähriger Erfurter, der würde in sechs Monaten Chinesisch lernen. Dazu bräuchte er nur, dass seine emotionalen Zentren aktiviert sind. Damit seine emotionalen Zentren aktiviert sind, braucht er etwas – keine Ahnung was – zum Beispiel: er verliebt sich in eine junge, 75-jährige Chinesin. Und dann wissen wir, dass er Chinesisch in sechs Monaten lernt. Gerald Hüther sagt immer, wenn wir mit 85 kein Chinesisch lernen, haben wir kein hirntechnisches Problem, sondern wir haben ein Emotions-, ein Begeisterungs-Problem.
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Es ist immer wieder merkwürdig für mich, als Ausnahme hier zu stehen oder zu sitzen. Als Ausnahme mit der Tatsache, dass das Lernen immer Spaß gemacht hat und, dass eigentlich das Lernen gar nicht existiert. Auch diese Tatsache, dass ich den natürlichen Rhythmen und Ritualen nachgegangen bin und, dass man mir vertraut hat, dass ich mein Leben lang gespielt habe. Ich stehe somit als Ausnahme hier – obwohl das, was ich erlebt habe, das ist, was jedes Kind erleben würde. Das ist das natürlichste, was man überhaupt erleben kann. Jedes Kind, das man in Ruhe lässt, jedem Kind, dem man Vertrauen schenkt, würde das passieren, was mir passiert ist. Somit bin ich keine Ausnahme und auch nicht eine Ausnahme darin, dass das Lernen nie aufhört.
Das wissen wir! Sobald uns etwas packt, sobald uns etwas unter die Haut geht, merken wir gar nicht, dass wir lernen. Das Problem ist, dass wir gewisse Begriffe vermischen. Und wir vermischen zum Beispiel die Begriffe „lernen“ und „auswendig lernen“. „Auswendig lernen“ ist eine Tätigkeit. Aber „lernen“ ist nur die Nebenwirkung unseres Spiels und unseres Tuns – also unserer Begeisterung. Somit kann ich die Frage nicht direkt beantworten.
Doch, also diese spezifische Frage, ob ich eine Pubertätskrise erlebt habe, ob ich in der Pubertät rebelliert habe, die kann ich beantworten; und zwar mit einem deutlichen Nein und mit einer wiederum leichten Erklärung. Und ich bin da wiederum nicht besonders, sondern ganz banal. Ich musste nicht um eine Freiheit kämpfen, die ich schon immer hatte. Ich musste nicht die Aufmerksamkeit anhand von irgendwie merkwürdigen Handlungen auf mich lenken. Ich war schon immer Objekt von Aufmerksamkeit gewesen und ich musste nicht um die Möglichkeit ringen, Verantwortung zu tragen. Ich hatte schon immer Verantwortung tragen können.
Also was mir mit all diesen Punkten passiert, ist jetzt genau das, was ein guter Freund von mir erzählt: Ein Mitarbeiter habe ihm gesagt, seine Frau habe ihm nach der Scheidung alles genommen. Dann hat er ihm gesagt: ‚Aber hattest du ihr denn nicht alles gegeben? Denn hättest du alles gegeben, so hätte sie nichts mehr zu nehmen gehabt.“
Und genauso erging es mit meiner Freiheit, mit meiner Möglichkeit, Verantwortung zu tragen, gesehen zu werden und so weiter. Und ich habe nicht durch diesen Kampf in der Pubertät darum kämpfen müssen endlich auf gleicher Augenhöhe zu sein mit meinen Mitmenschen. Ich war es schon immer. Also hat es diese ganze Krise, die es angeblich geben muss, nie gegeben. Und zwar nicht, weil ich eine Ausnahme bin. Das einzige Außergewöhnliche bei mir ist, dass es all diese Dreh- und Angelpunkte nicht gegeben hat. Aber die gibt es in vielen Kulturen nicht.
Also die Frage kann ich nicht beantworten, weil ich nicht wirklich verstehe, dass das Lernen mit der Pubertät aufhört. Für viele stimmt das überhaupt nicht. Denn viele leiden bis zur Pubertät und müssen Dinge lernen oder „auswendig lernen“, die sie nicht interessieren. Und die Pubertät ist ungefähr die Zeit, wo man eigentlich mit der Schule fertig ist. Und viele fangen erst dann an, zu lernen, was sie wirklich interessiert. Das geht ja ganz leicht.
Und manchmal ist es auch so, dass, wenn ich eine Frage nicht verstehe, dann bedeutet es nicht, dass sie schlecht ist oder, dass ich zu dumm bin. Sondern einfach: Sie gehört nicht zu meinem Bezugssystem und das ist oft meine bessere Antwort.
André Stern über Regeln, Grenzen, Rituale und das „Nein“
Ja, aber ich denke, das hat es jetzt auch schon gut auf dem Punkt gebracht.
Lass uns noch ein paar Jahre zurückgehen zu den jüngeren, zu den kleineren Kindern bzw. zu deiner eigenen Kindheit. Wir wurden gefragt, wie es denn mit Regeln und Grenzen aussah. Also in Deutschland ist es immer noch so, dass Erziehung als sehr wertvoll erachtet wird und gesagt wird: „Kinder brauchen Grenzen und Regeln von Anfang an“. Und du hast ja selber davon gesprochen, dass Rituale eher wichtig sind, aber dass Grenzen eher was sind für Frauen zum Beispiel.
André Stern: Ja eben! Das ganz große Problem ist folgendes: Wir diskriminieren ständig, ohne es gar zu merken. Wir sind so daran gewöhnt, so konditioniert, dass wir es gar nicht mehr merken. Ich finde es sehr merkwürdig, weil das stimmt: Es genügt, dass man ein Wort umtauscht und schon funktioniert der Satz nicht mehr. Und ich finde es schon ziemlich merkwürdig, dass es Menschen gibt, die das Gefühl haben, dass sie wissen, was die anderen brauchen. Und die sagen: „Kinder brauchen Grenzen“. Wie gesagt, machen wir den Test, machen wir den Versuch! Wechseln wir ein Wort aus: „Frauen brauchen Grenzen“.
Ja dann würde ich schon anders gucken.
André Stern: Dann wird der Satz nicht mehr erträglich. Wir haben jahrhundertelang gekämpft, damit dieser Satz nicht mehr hörbar ist. Es wird, was Kinder betrifft, irgendwann auch der Fall sein. Bald! Dann kann ich endlich in den Ruhestand gehen.
Nein Kinder brauchen keine Regeln, denn wir wissen nicht was Kinder brauchen. Wir können aber beobachten, was Kinder suchen. Und was sie suchen, sind Rituale. Dinge, die immer wieder auf eine verständliche Weise wiederkehren. Also wenn dasselbe immer wieder passiert, zur selben Zeit zum Beispiel, dann hast du die gewisse Beruhigung, die es einem gibt, zu wissen, dass es ist wie eine Struktur, wie ein Gerüst. Wir wissen ja: Sobald etwas fremd ist, fühlen wir uns weniger gut. Sobald das Fremde einigermaßen vertraut geworden ist, fühlen wir uns wieder gut.
So, und was Kinder suchen, sind eben Rhythmen, Rituale. Das suchen sie. Und sobald sie sowas entdecken und auch verstehen: „Ah, da ist ein Ritual“, dann übernehmen sie das und sind höchst empört, wenn man sich daran nicht hält. Und das ist, was intrinsisch ist, was viel stärker ist als jede Regel, die man einem auferlegt.
Ein Beispiel: Antonin, mein Sohn, hat mit drei schon entdeckt gehabt, dass die Autos bei Grün fahren und bei Rot stehen. Du müsstest sehen, wie empört er gewesen ist, am Tag, wo er zum ersten Mal erlebt hat, dass ein Auto über Rot gefahren ist. Da ging die ganze Welt, da brach die ganze Welt zusammen, weil plötzlich die Sicherheit, die er hatte, keine mehr war. Denn es gibt die Möglichkeit, dass sich jemand nicht daran hält.
Das sind Orientierungen. Die sind gesellschaftlicher Natur. Es gibt auch die familiären und es gibt die persönlichen. Und das ist ein Gerüst.
Und ich glaube, alles, was von dem Erwachsenen ausgeht, ist problematisch. Auch die „Laissez-Faire-Methode“, wo man das Kind über alles ausfragt. Dies geht auch vom Erwachsenen aus und ist somit wieder problematisch. Denn wieder weiß einer, was die Kinder brauchen – oder weiß, dass man die Kinder fragen muss, was sie brauchen, was genauso von sich ausgeht und nicht vom Kind aus.
Kinder haben auch kein Problem mit „nein“ und kein Problem mit „Disziplin“. Sie haben kein Problem mit nein, weil … sie haben nur ein Problem mit nein, wenn es zu viele „Neins“ gibt. Wenn du im Laufe des Tages schon in lauter Neins ertrunken bist, ist ein Nein mehr unerträglich. Aber wenn das, was du die meiste Zeit empfindest, nicht nur hörst, dann „Ja“ ist, wenn es so eine allgemeine Bejahung gibt, ein allgemeines grünes Licht, dann hat das Kind überhaupt kein Problem damit, dass es ab und zu oder immer wieder ein „Nein“ gibt.
Das ist genau das Gegenteil von dem, was uns gesagt worden ist. Uns wird gesagt: „Kinder muss man trainieren, damit sie die Frustration überhaupt ertragen“. Das ist das Gegenteil. Bist du ein Kind, das Frustration gut überlebt, das eigentlich kein Problem mit Frustration hat, dann musst du es nicht mit möglichst viel Frustration konfrontieren, sondern mit möglichst viel Zufriedenheit. Und dann ist die Frustration eben die Ausnahme und somit kein Problem.
Ist André Stern ein privilegierter Mensch?
Ja genau. Ich würde da gerne mal anknüpfen an deine Kindheit. Deine Eltern haben das ja auch schon mit den Regeln ganz anders gesehen (wahrcheinlich) als die meisten. Du und deine Schwester, ihr seid in den 70er Jahren geboren, und euch wurde ja ein ganz liebevoller und vertrauensvoller Umgang entgegengebracht. Was meinst du denn, woran das gelegen haben könnte? War das die vorausgegangene Flower-Power-Zeit oder … ?
André Stern: Nein, das hat nichts … Meine Eltern haben nichts umgesetzt. Sie haben keine Theorie umgesetzt. Sie haben keine Hypothese irgendwie versucht, zu verwirklichen. Sie haben kein eigenes Projekt gehabt. Das ging eben alles nicht von ihnen aus. Sie hatten einfach beide mit Kindern gearbeitet und hatten ein enormes Vertrauen in unsere Potenziale – von uns Menschen – entwickelt. Und sie hatten dieses Vertrauen und das ist eben keine Methode, das ist eine Haltung. Und das ist …
Ich bin ein Kind vom Malort. Das ist eine Entdeckung meines Vaters. Das hat meine Kindheit einhundertprozentig geprägt, logischerweise. Aber das, was meine Eltern charakterisiert, ist ja die Haltung. Und die Entscheidung, die sie getroffen haben.
Die Bedingungen rundherum haben alle nicht gestimmt – weil viele denken: „Na ja, bei so privilegierten Bedingungen, nicht wahr?“ Und das ist die letzte Zuflucht, um sich selbst um die Möglichkeit zu berauben, darüber nachzudenken, warum das für alle eigentlich möglich wäre, so eine Entscheidung zu treffen. Denn sie haben nicht gewartet, bis die Bedingungen das ermöglicht haben. Sie haben diese Entscheidung getroffen und dann die Bedingungen, die das ermöglicht haben, erfunden – und zwar Tag für Tag, Euro für Euro. Und das kann jeder.
Und es ist eine enorme Befreiung. Eigentlich ist das eine grundsätzliche Frage der Freiheit. Und das ist das, was meine Eltern dazu gebracht hat. Das hat für sie … das lag so sehr auf der Hand. Für sie war es anders nicht möglich. Fertig! … Aus vielen Gründen. Aber niemals gegen die Schule. Meine Eltern sind keine Schulkritiker. Meine Eltern sind nicht gegen Schule. Meine Eltern hatten mit der Schule keine schlechte Erfahrung und hätten ihre Kinder schützen müssen oder abzurechnen gehabt mit der Schule. Das hat mit dem nichts zu tun.
Und vor allem, um ein Beispiel zu geben, warum sie das für etwas gemacht haben: Wir sind die einzige Spezies, auf Erden auf jeden Fall, die ihre Kinder weckt. So, das konnten meine Eltern sich nicht vorstellen, dass sie ihre Kinder wecken. Also mussten sie ganz viele Entscheidungen treffen, um das zu ermöglichen, dass sie ihre Kinder nicht wecken müssen. So, damit war es für sie klar: Zur Schule können wir sie nicht schicken, sonst müssen wir sie wecken“ – nur ein Beispiel von ganz vielen.
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Erziehung und Vertrauen in das Kind
Sehr schön, danke! Und dann, ja, bei uns Freilerner-Familien und auch bei vielen anderen Eltern, die so zu deinen Vorträgen kommen, oder die auf deine Bücher stoßen, bei denen entsteht immer mehr der Wille, den eigenen Kindern mehr zu vertrauen – in allen Lebensbereichen. Und ja, die Freilerner-Familien versuchen eben schon, diese ganzen Konflikte, die sich über Generationen immer so zwischen den Generationen so entwickelt haben … also wir wollen eigentlich, dass sich diese Konflikte auflösen.
Aber manchmal hat man einfach nicht die Ruhe und/oder man fällt in alte Erziehungsmuster zurück, da man selbst so typisch erzieherisch geprägt wurde oder einen regt die manipulierende Schwiegermutter gerade auf. Und dann gibt es doch immer wieder Situationen, wo man vielleicht als Eltern ja doch gerne anders reagiert hätte. Ich würde dich gerne fragen, ob es dir schon mal so ging, dass du nach irgendeiner Situation – vielleicht mit Antonin – gedacht hast: „Mensch, ich hätte vielleicht auch anders reagieren können“?
André Stern: Freilich! Es fällt mir gerade nichts ein. Aber mein Versuch ist es, auf jeden Fall immer vom Kind auszugehen. Und um dem Versuch nachzugehen: Wie ergeht es dem Kind, wenn es um das Kind geht?
Aber es ist so viel Vertrauen da. Antonin hat so viel Vertrauen in mich und ich habe so viel Vertrauen in Antonin, dass das schon mal eine ganz besondere Basis ist. Und er hat das Vertrauen, dass ich mich selten willkürlich benehme. Und ich habe dasselbe Vertrauen. Aber wenn ich es tue oder tun sollte oder tun würde, dann würden wir das besprechen. Und es ist auch klar durch unsere Beziehung entstanden, so wie es mit meinen Eltern war.
Wenn es ihm nicht passt, dann wird er das auch sagen und dann müssen wir das besprechen. Und wenn ich um Entschuldigung bitten werde, werde ich es gerne tun. Das habe ich einige Male in meinem Leben Antonin gegenüber gemacht. Ich bitte um Entschuldigung, und zwar ehrlich, weil ich bemerkt habe: jetzt habe ich – so, ich weiß nicht, welche die gute Antwort ist. Ich weiß es nicht. Ich will es auch gar nicht wissen. Und ich glaube, wichtig ist nicht, dass ich die gute Antwort weiß, sondern, dass ich ein möglichst authentisches Vorbild bin.
Denn ich sehe, wir sehen in unseren Kindern unsere Vergangenheit. Sie sehen in uns ihre Zukunft. Und ich möchte meinen Söhnen die größtmögliche Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit und Authentizität vorleben. Und das beinhaltet, dass ich manchmal daneben reagieren kann, dass man es aber erklären kann, dass man sich erklären kann, dass man aber wieder das besprechen kann, dass man jetzt ins Gespräch kommt.
Ich sehe Konflikte eigentlich nicht als Probleme an. Konflikte sind eine Möglichkeit, verschiedenartige Meinungen zusammenkommen zu lassen. Und die Verschiedenartigkeit ist eigentlich an sich eine wunderbare Bereicherung. Also es ist jetzt also eine umständliche Weise, das zu beantworten. Aber ich habe mit Konflikten kein Problem.
Und ich muss nicht beharren auf irgendeiner Überzeugung, dass der Papa recht hat, auch wenn er nicht recht hat. „Artikel 1: Papa hat Recht. Artikel 2: Sollte Papa nicht recht haben, gilt Artikel 1.“ Warum? Weil wir auf einer Augenhöhe sind. Und das ist, glaube ich, der Punkt. Und das ist, glaub ich, viel wichtiger, als erzieherische Maßnahmen oder gegen-erzieherische Maßnahmen zu treffen.
Und ich glaube, es ist auch wichtig, dass er sieht, dass ich manchmal ärgerlich bin, dass ich manchmal schlechte Laune habe, dass er mir helfen kann, das zu sehen und auch, das zu verändern.
Geschwisterstreit und die Ehrung der Verschiedenartigkeit
Auch wunderbar! Bleiben wir mal bei der Verschiedenartigkeit. Zum Beispiel bei Geschwistern. Ich weiß, dass du kein Erziehungsberater bist und auch keiner sein möchtest. Aber vielleicht hast du doch eine Idee und kannst auch deine Erfahrung berichten. Bei vielen Familien mit mehreren Kindern ist Geschwisterstreit immer mal wieder Thema.
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Und bei meinen zwei Mädchen habe ich bemerkt, je mehr ich eingreife, desto weniger kompetent erscheinen sie mir eigentlich. Oder, wenn ich es anders sage: Je weniger ich eingreife, desto einfacher fällt es den Mädchen, den Konflikt selbst zu lösen. Jetzt weiß ich, dass dein Benjamin wahrscheinlich noch zu klein ist, um überhaupt mit Antonin da einen Streit entstehen zu lassen. Aber vielleicht kannst du aus deiner Erfahrung berichten, wie das mit deiner Schwester war. Heute versteht ihr euch ja sehr gut. War das schon immer so? Oder seid ihr auch mal mit Geschwisterstreit gewachsen?
André Stern: Neee. Wir ehren eigentlich die Verschiedenartigkeit und somit auch die Meinungsverschiedenartigkeit – also -verschiedenheit. Somit ja, das ist für mich dieselbe Frage wie vorher. Ich habe kein Problem mit Konflikten.
Wie war das als Kind, als ihr Kinder wart?
André Stern: Ja, da haben wir gewiss Konflikte gehabt. Und die haben ja auch immer noch, immer wieder. Es gibt wenige Menschen, mit denen man keine Konflikte, nie Konflikte, hat. Also mit Pauline, meiner Frau, hatten wir bis jetzt keine. Kann noch kommen. Es wäre nicht das Ende der Welt.
Aber was Antonin weiß – zum Beispiel – ist: Es gibt einen gewissen Tonfall, eine gewisse Art und Weise, miteinander zu sprechen, die ich nicht ertrage. Das ist mein Typ und ich habe diese Ehrlichkeit. Aber ich habe keine Ahnung, was die gute Antwort ist. Ich will auch gar nicht wissen, was die gute Antwort sein könnte. Denn wenn ich eine gute Antwort wüsste, dann fände ich, wäre ich sehr verdächtig. Und ich kann nur Fragen beantworten, nur praktische Fragen beantworten. Ich bin ja kein Theoretiker. Ich kann nur eine Landschaft beschreiben, die ich vor Augen habe.
Ich habe keine Ahnung, wie es zwischen Antonin und Benjamin sein wird. Ich habe keine Ahnung. Ich habe auch keine Ahnung, wie ich dann reagieren werde. Kann ich dir nicht sagen.
Und ich kann dir sagen: Ja, mit meiner Schwester hat es das immer wieder gegeben. Aber da wir alle auf derselben Augenhöhe schon immer gewesen sind, von Anfang an, sie, ich, unsere Eltern, und da wir die Verschiedenartigkeit und die Verschiedenheit ehren, dann war auch – wie gesagt – die Meinungsverschiedenheit noch nie ein Problem. Es ist höchstens die Möglichkeit, und warum nicht durch Streit, Verschiedenartigkeiten zusammenkommen zu lassen. Und somit hat man die Möglichkeit, neues Bewusstsein zu gewinnen, ja.
Die Diskriminierung der Kinder
Ja, eine ganz andere Welt zu sehen. Ok. Dein Papa ist ja der Begründer des Malortes, also ein Ort, wo Kinder unkommentiert sich verwirklichen können. Das jetzt vielleicht mal nur ganz kurz dazu gesagt. Und aus deinen Büchern habe ich gelesen, dass es bei euch zu Hause keine Bilder in dem Sinne gab. Und du achtest auch bei deinen Söhnen darauf. Genauso wie beim Spielzeug, dass es nicht so typisch kindgerechte, vom Markt gewollte Motive gibt. Zum einen ist das bestimmt schwieriger, da überhaupt zum Beispiel Kleidung zu finden.
André Stern: Nööö, man muss nur suchen.
Und zum anderen hat es ja bei euch schon eine große Bedeutung, eine große Bewandtnis. Vielleicht kannst du darüber noch ein paar Worte verlieren, warum es diese Bilder zum Beispiel bei euch zu Hause nicht gab. Ich weiß nicht, wie das jetzt bei euch ist?
André Stern: Es gibt – ja – keine Bilder aus verschiedenen Gründen. Der erste Grund ist vor allem, dass wir die Kunst auch sehr ehren. Und genauso wie wir keine Hintergrundmusik laufen haben, haben wir auch keine Hintergrundbilder. Bilder sind etwas, das man ansieht. Und wenn du sie die ganze Zeit im Hintergrund hast, dann siehst du sie nicht mehr an. Sie sind nur noch da. Also wir haben ein Bild im Haus. Das haben wir.
Und der Grund, warum es bei uns keine gab: Na ja, weil unsere Eltern unsere Spur beobachtet haben und nicht wollten dass es notorisch ist, dass Bilder an die Wand gehen. Das war bei meinen Eltern der Grund. Und bei uns diese Ehrungen und auch derselbe Wunsch eigentlich, dass das Kind die Spur, die es hinterlässt, von innen heraus hinterlassen kann. So das ist’s.
Was die Kleidung betrifft und so weiter, ist es ganz leicht. Du würdest niemals eine Kleidung tragen wollen oder die meisten von uns wollen diese Kleidungen nicht tragen, die Kinder heute tragen müssen, wo steht: „Nein, ich esse meine Suppe nicht“. Und weil das eben einfach diskriminierend ist und extrem. Eigentlich, ist das kränkend! Genau wie diese Bücher, wie diese angepassten Spielzeuge und so weiter. Das ist alles eine Kränkung.
Und das Problem ist, dass wir die Kinder so behandeln, bis sie denken, dass sie nichts besseres verdienen – oder, dass das sogar für sie das Beste ist. Und dann sehen Sie sich selbst mit den Augen, die wir ihnen auferlegen, die wir ihnen quasi antun. Und das ist schade. Und dann haben Sie das Gefühl, dass … und dann fühlen sie sich angezogen von dem, was man für sie entschieden hat.
Ja, das fällt mir auch immer wieder auf. Ich denke auch, dass das relativ schnell geht, dass die Kinder mit diesen Augen sehen, der von Markt so geschürt wird.
André Stern: Natürlich!
Vielleicht finden wir noch ein paar abschließende Worte.
André Stern: Hast du alle Fragen aus?
Zur Sozialisation von Kindern
Ich habe sonst alle Fragen. Die eine noch. Und die kommt immer wieder gerne aus dem Publikum bei deinen Vorträgen, hatte ich zumindest damals in Erfurt den Eindruck. Ich glaube, Patrick auch aus Jena. Wenn das Publikum fragt oder sagt: „Aber Kinder brauchen doch andere Kinder, wegen der Sozialkontakte“. Also das ist was, was uns auch immer wieder, weil unsere Kinder ja nicht in den Kindergarten gehen, ja so als Vorwurf gemacht wird.
André Stern: Das ist eigenartig, wie manche grundlegenden Irrtümer fest verankert sind. Aber ich kann es erklären. Es ist ganz leicht, warum das so ist. Weil: Die klinische Beobachtung der Tatsachen scheint diese Theorie zu bestätigen – obwohl das völlig falsch ist.
Kinder gehen auf Kinder zu, behauptet man. Stimmt aber nicht! Aber man beobachtet, dass die Kinder in unserer Gesellschaft immer auf Kinder zugehen. Also hat man daraus geschlossen, also es ist ja logisch: Kinder gehen auf Kinder zu, also muss man Kindern an Kindern orientieren, weil sie das eben so wollen.
So, das ist genauso falsch wie dieser nette Witz – weiß nicht, ob du den kennst: Ein Wissenschaftler nimmt einen Floh, reißt ein Beinchen aus und sagt: „Floh spring“, und der Floh springt. Und reißt zwei Beinchen aus und sagt: „Floh spring“, und der Floh springt. Und reißt am Ende sechs Beinchen aus und sagt: „Floh spring“, und der Floh springt nicht. Und der Wissenschaftler schreibt auf: „Wenn man alle sechs Beinchen einem Floh ausreißt, wird der Floh taub.
So, das ist falsch, stimmt aber.
Und das mit den Kindern stimmt. Kinder gehen auf Kinder zu. Ist aber falsch, weil Kinder nicht auf Kinder zugehen, sondern Kinder gehen auf diejenigen zu, die spielen. Und in unserer Gesellschaft sind es nur noch die Kinder, die noch spielen. Also gehen die Kinder auf die Kinder zu. Stellst aber du einen Erwachsenen in den Raum, der spielt, dann stürzen sich die Kinder auf diesen Erwachsenen, der spielt, weil sie eigentlich immer zwei Dinge wollen, die Kinder: Sie wollen immer einerseits sein wie wir und andererseits wollen sie spielen.
Nun, aber beides geht nicht. So sein wie wir und zu spielen geht nicht, weil wir nicht spielen. Sie können nicht so sein wie wir und spielen, weil wir nicht spielen. Spielen aber wir wirklich, dann spielen sie, dann stürzen sie sich auf uns. Das kann man beobachten. Das wissen wir. Wir beobachten es ja jeden Tag.
Eben erst.
André Stern: Eben! Das heißt, dass es völlig falsch ist. Kinder gehen auf diejenigen zu, mit denen sie Interessengemeinschaften teilen können und jeden Alters.
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Und deshalb ist es für mich immer sehr merkwürdig, dass man einen Begriff wie Alter, also Kindheit, Kinder, als Grund ansehen kann, Menschen zu versammeln. Das ist keine Sozialisierung. Das ist Ghetto-Denken. Da reißt man die Menschen aus ihrer Umwelt heraus, um sie durch Kategorien irgendwie in Ghettos einzusperren; Nur Frauen, nur Frauen mit blauen Augen, nur Kinder – ist für mich genauso absurd.
Und Kinder sehen es eigentlich auch so. Denn Kinder sehen diese Unterschiede, bewerten sie aber nicht und fühlen sich nicht mehr angehörig dem oder dem anderen.
Sie fühlen sich zugehörig. Sie fühlen sich als Teil vom Ganzen. Sie haben das Gefühl, das Ganze zu enthalten.
Und deshalb ist diese Frage wegen der Sozialisierung für mich immer eine merkwürdige. Denn die Sozialisierung, die findet hier draußen statt. Da, wo die möglichst, die größtmögliche Verschiedenartigkeit herrscht, wo man sich gegenseitig bereichern kann durch die Verschiedenartigkeit.
Und würde man Menschen – zum Glück tut man das nicht – nach Alter und Wohnort zusammentun wollen, dann hätte ich Sorgen für diese Sozialisierung dieser Menschen. Zum Glück gibt es solche Orte nicht.
Mit Ausnahme des Klassenzimmers, oder?
André Stern: Das sagst du. Ich habe nichts gesagt. Bin ja kein Schulkritiker. Aber ich glaube ehrlich, dass das alles keine Frage der Methode ist, dass man überall, auch in der Schule, und deshalb arbeite ich auch ganz viel mit Menschen, die Schule geben, dass man auch in der Schule diese neue Haltung, die ich Ökologie der Kindheit nenne, dass man sie leben kann. Auch im Krankenhaus, auch auf der Straße.
Das ist eben eine Sache der Haltung. Und mit dieser neuen Haltung werden wir die Welt verändern. Denn es wird keinen Frieden auf Erden geben, solange wir nicht in Frieden sind mit der Kindheit. Und diesen Frieden können wir nur schließen durch Vertrauen.
Ein paar sehr schöne abschließende Worte. Lieber André, ich danke Dir sehr viel.
André Stern: Ich danke dir.
Du hast meinen Horizont auch erweitert, besonders mit den Bildern. Das ist bei mir immer noch ein bisschen schwierig, weil wir viele Bilder haben. Und mit der Hintergrundmusik, das hat mich auch schon immer gestört. Das ist ein schöner Vergleich.
André Stern: Also dann bis zum nächsten Mal. Tschüss!
Ja, ich danke dir und wünsche dir heute noch einen guten, grandiosen Auftritt zusammen mit deinem Papa.
André Stern: Dann wollen wir gucken. Bis später, tschüss!
Mein Interview mit André Stern als Video
Das gesamte Interview mit André Stern kannst Du Dir hier auch anschauen oder anhören. Viel Spaß!
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Toller Bericht! Auch die Pädagogik entwickelt sich weiter, wichtig ist für mich, dass Kinder auf Augenhöhe behandelt werden.
Danke!