Liebe Mamas und Papas,

gehört ihr auch zur großen Gruppe der Vergnügten, die für ihr Kind seit geraumer Zeit „Homeschooling“ betreiben? Wer regelmäßig Klassen- oder Elternchats liest, sucht das Wort „Vergnügung“ vergebens. Neben Chats findet man auf Instagram Bilder von zerknüllten Hausaufgaben oder von Kindern, die mit rauchenden Köpfen über ihren Schulsachen am Küchentisch hängen. Im Text dazu steht dann:

„Also dieses Freilernen, das funktioniert nicht bei uns. Wir hatten jetzt ein halbes Jahr Homeschooling. Wie das diese typischen Reisefamilien nur machen? Also mit meinem Kind klappt das nicht.“

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Ja, euer „Distanzunterricht“ (Beschreibung auf Wikipedia) ist wahrlich kein Vergnügen. Es macht keinen Spaß. Und das liegt daran:

„Distanzlernen“ ist kein Homeschooling! Corona-Homeschooling ist kein Freilernen!

Seit der Corona-Plandemie werden all die Begriffe zur Bildung von zu Hause aus gern in einen Topf geworfen. Mein Bedürfnis ist es, genau diese zu entwirren und mit ein paar Vorurteilen aufzuräumen. ;-)

Beim Distanzunterricht entscheiden ausschließlich Lehrer, was zu tun ist.

Beim angesagten Distanzlernen erleben wir: Aufgaben für einzelne Fächer kommen von externen Lehrern. Doch diese sind nur selten im Bilde über die Interessen der einzelnen Schüler, noch wissen sie um die Motivation der Eltern, noch ist es ihnen möglich, vom Konzept der Schule abzuweichen. Dabei sind es aktuelle Geschehnisse und die Begeisterung des Kindes, an die das Homeschooling anknüpfen sollten.

Weil die meisten Erwachsenen selbst beschult worden sind, gehen sie davon aus, dass Lernen ausschließlich in altbekannter Form realisierbar ist: mit Schulbüchern, Heften, ein paar Lernvideos und Apps brav am Schreibtisch. Dass das „Lernen“ immer und überall stattfindet und etwas anderes meint als das vorgegebene Bulimie-Lernen, wird noch viel zu oft unter den Teppich gekehrt.

Homeschooling bedeutet NICHT, dass man zu Hause Schule spielt

Viele Homeschool-Familien eint der Wunsch nach Freiheit und natürlichem, nachhaltigem Lernen. Beim Homeschooling gibt es viele verschiedene Wege, wie das Lernen gestaltet werden kann. Sie unterscheiden sich je nach Familie und den Vorgaben des Staates.

So gibt es bei manchen …

  • einen klaren Wochenplan mit oder ohne Wochenziel,
  • Tage, an denen die Kinder ein externes Angebot nutzen, zum Beispiel Seminare, Kurse oder Musikstunden, die nicht in den eigenen vier Wänden stattfinden,
  • regelmäßige Ausflüge,
  • ein festes Schulzimmer zuhause,
  • Praktika,
  • Projekte,
  • externe Lehrer (zum Beispiel Austauschstudenten, Workawayer, Studenten) zur Förderung eines Sachgebiets
Wikingermuseum in Ribe

Unser Besuch im Wikingermuseum: Wie haben die Menschen früher gelebt?

Selbstbestimmte Bildung

Manchmal unterrichten die Mütter oder Väter und geben Aufgaben vor. Viele Familien richten sich in Sachen Bildung aber auch völlig nach den Kindern. „Freilernen“ nennt man diese Form des Homeschoolings. Es beschreibt die Variante, die wir mit unseren Kindern praktizieren. Sie wird auch „Unschooling“, „autodidaktisches Lernen“ oder „selbstbestimmte Bildung“ genannt.

Außerdem findet das Lernen weder isoliert noch ausschließlich zu Hause statt – anders als der Begriff „Homeschooling“ vermuten lässt.

Wir organisieren Treffen mit:

  • Freunden,
  • Familien,
  • Gruppen,
  • Künstlern,
  • Handwerkern und
  • Menschen, die ihr Können gern unseren Kindern zeigen.

Wir besuchen regelmäßig:

  • Museen
  • Festivals
  • Bibliotheken
  • Spielplätze
  • Universitäten
  • Vorträge
  • Theater
  • Konzerte
  • Planetarien
  • Botanische Gärten
  • Baudenkmäler
  • Burgen und Schlösser
  • Geburtshäuser oder Kreißsäle
  • Waldakademien
  • Bauernhöfe
  • Sporthallen
  • Kirchen, Moscheen, Tempel usw. usf.
Die Akropolis in Athen: Geschichte für Worldschooler

Die Akropolis in Athen: Geschichte für Worldschooler

Kein Lehrplan für Unschooler und Freilerner

In Deutschland ernte ich oft Unverständnis, wenn ich erzähle, dass ich mich NICHT als Lehrerin unserer Kinder sehe. Meine Erklärung ist wohl oft philosophischer als mein Gegenüber erhofft. Nein, ich bin kein Lehrer. Termini wie Lernbegleiter, Wegbereiter, Unterstützer oder selbst Schüler passen viel besser.

Freilerner bekommen nichts vorgegeben. Niemand zwingt ihnen einen Lernstoff auf. Sie brauchen keine Lesezeit einhalten. Genauso wenig müssen sie an einem Kurs teilnehmen, der sie nicht brennend interessiert. Die meisten Kinder dieser Familien sind von Anfang an frei. Ihre Begeisterung wurde noch nie gebremst. Sie lernen unentwegt, ohne zu wissen, dass sie gerade etwas „lernen“ – selbstbestimmt, frei und aus der eigenen, „intrinsischen Motivation“ heraus.

Kind liest Anleitung

Intrinsisch und selbstbestimmt lernen: Wer eine Anleitung verstehen will, muss sie lesen.

Ihr findet das irre? :-D

Nachhaltiges Lernen und Bewertung

Das liegt daran, dass in der Gesellschaft die Ausdrücke „lernen“ und „spielen“ so verwendet werden, als würden sie sich ausschließen. Für unsere Kinder ist alles Spiel. Sie sagen nicht: „Oh, jetzt habe ich mit der Schere einen Buchstaben ausgeschnitten. Da habe ich was gelernt!“. Auch nicht: „Ei schau, in diesem Karton sind 100 Wattestäbchen. Weil ich sie zählte, habe ich die Zahlen gelernt.“

Ob sie laufen lernen, Bausteine stapeln, beim Holzspalten helfen, auf einer Schreibmaschine tippen, sich ein Buch zum Lesen schnappen oder die Integralrechnung für sich entdecken: Sie tun das aus eigenem Interesse heraus. Und keiner sagt nach 45 Minuten: „So, Zeit für etwas anderes!“

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Begeisterung für klassische Musik

Ein Konzertbesuch, um klassische Musik zu „erfahren“.

Die Hirnforschung zeigt, wie bedeutsam das emotionale Zentrum ist: Jeder kann jederzeit etwas lernen, solange er begeistert davon ist. Im Gegensatz dazu ist unser Gehirn blockiert, wenn wir Angst oder Stress fühlen.

Aus diesem Grund kennen Freilerner auch keine Leistungskontrollen. Wir fragen sie nicht aus. Keiner wird bewertet oder mit anderen verglichen. Ich will meine Kinder von Anfang an als richtige Menschen sehen, die zwar Unterstützung, aber keine Korrektur brauchen.

Unschooling

„ … der Begriff ‚Unschooling‘ wird inzwischen mit der Art von Homeschooling assoziiert, die keinen festen Lehrplan verwendet. Wenn ich dazu gedrängt werde, definiere ich Unschooling als das Zulassen von so viel Freiheit für die Kinder, in der Welt zu lernen, wie es ihre Eltern bequem ertragen können.“ – John Caldwell Holt

Radical Unschooling

Beim „radical unschooling“ haben Eltern keinerlei Erwartungshaltung. Radikale Unschooler oder Whole-Life-Unschooler lernen vollständig autonom. Das spiegelt sich in anderen Bereich des Lebens: Sie befolgen keine willkürlichen Regeln wie Schlafenszeiten und Hausarbeiten. Diese Kinder gehen einfach ins Bett, wenn sie müde sind, essen, was und wo sie wollen. Ihre Zeit füllen sie mit absolut allem, was sie wollen.

Haltet ihr radikales Unschooling für vernachlässigte Kindererziehung? Ich glaube, es ist nicht der Fall. Unschooling ist nicht „un-parenting“. Die Eltern sind sehr engagiert und achtsam. Sie sehen Kinder als gleichberechtigte Partner.

“Think about what you say to your child. Don’t tell them what to do. If you wouldn’t say it to your husband, don’t say it to your child.” – Shelly Sangrey

Deschooling

Kindern und Jugendlichen, die zu Beginn eine Schule besuchten und später erst zum Freilernen wechseln, sollte eine Auszeit vom „Schulkram“ zustehen. Sie ist wichtig, um sich an die neue Situation ohne Schulbesuch zu gewöhnen.

Sie müssen sich von Stress und Druck erholen und sie müssen verstehen, dass …

  • es keinen straffen Zeitplan mehr gibt
  • sie sich nicht mehr für jedes Wort melden müssen und
  • täglich 24 Stunden überall auf der Welt lernen statt wie zuvor acht Stunden hinter dem Schreibtisch.

Das Deschooling als Zeit der Umstellung kann mehrere Monate bis zu einem Jahr dauern. Die Kinder versuchen, das Schulsystem zu „verlernen“ und die natürliche Liebe zur selbstbestimmten Bildung zu entdecken, mit der alle Kinder geboren werden.

Papa erklärt seiner Tochter die Sojus-Kapsel

Einer der Berufswünsche unserer Tochter: Astronautin (der andere: Hebamme)

Die „Entschulung“ sollte meiner Meinung nicht ausgespart werden, damit der Start in den Hausunterricht nicht mit Burnout endet. Doch genau das beachtet kein deutsches Kultusministerium während der Corona-Krise. ;-) Denn vielen Menschen ist es wichtig, dass die Schule unverändert zu Hause weitergeht.

„Lehren“ die Eltern anders als Schulpädagogen, kämen sie womöglich noch auf die Idee, man bräuchte „Schule“ nicht zwingend.

Wer Anregungen fürs Deschooling sucht, wird bei Homeschool Hideout (englisch) fündig.

Wir dürfen uns von der Idee verabschieden, Kinder bräuchten Schule

In den nächsten Blogartikeln nehme ich euch in unseren schulfreien Alltag mit. Ihr erfahrt meine persönlichen Beweggründe für das Unschooling. Zudem riskiere ich die freche Aussage: „Wir dürfen uns von der Idee verabschieden, Kinder bräuchten Schule.“

Bis dahin wünsche ich euch eine gute Zeit, egal ob mit oder ohne Distanzunterricht.
Eure Evelin

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(Titelbild von Annie Spratt auf Unsplash

 

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